März 8, 2022

Chronologie des Widerstandes in Kanada

«Wir lassen uns nicht kriminalisieren»

Wie es möglich gewesen ist, dass First Nations in Kanada von der Bundespolizei RCMP in Überwachungsberichten als "besorgniserregende Gemeinschaft" bezeichnet und kriminalisiert werden, haben wir im Beitrag >> Kanadas Widerstand gegen Gerechtigkeit nachgezeichnet – aber was ist das «Verbrechen» der First Nations?

Sie sind den Rohstoffindustrien im Weg. Sie haben sich – nachdem sie vor Gerichten abgeblitzt sind – für ihre Landrechte gegen ausbeuterische Industriefirmen vor Ort gewehrt. Diese bedienen sich der RCMP, um die Proteste zu zerschlagen und deren Exponent*innen zu verhaften. Den Indigenen ist bewusst, dass sie zwangsläufig zu Gesetzesbrechern werden, wenn sie als selbstbestimmende Nationen mit einer starken Verbindung zu ihrem Land leben wollen. Die Ironie dabei ist, dass sie wie Kriminelle behandelt werden, obwohl sie bei der Verteidigung ihrer Landrechte eine Aufgabe erfüllen, die ganz Kanada dient: dem Schutz der Wälder, Täler, Gewässer und des Klimas, von denen alles Leben abhängt. 

v.lk.n.r.: Arthur Manuel (Shuswap, B.C.), Gladys Vasquez (Peru), Francisco Calí ((UN-Sonderberichterstatter für die Indigenen Völker; damals Präsident des UN-Komitees zu Überwachung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD))), Bertha Williams (Tsawwassen, B.C.) 2009 an der UNO in Genf

Gemäss Art Manuel, dem 2017 verstorbenen charismatischen Secwepemc-Leader haben die Indigenen über die Jahrzehnte eine Reihe von rechtlichen Instrumenten gewonnen: die verfassungsmäßige Verankerung der Rechte der Ureinwohner (1982), wichtige Urteile des Obersten Gerichtshofs von Kanada (z.B. Delgamuukw 1997) und die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Indigenen Völker (2007). Damit könnten die First Nations eine angemessene Landbasis zurückerhalten und eine nachhaltige, autonome Wirtschaft entwickeln. Aber: Ein Gerichtsurteil allein ist leider noch keine Garantie dafür, dass die Regierungen es auch respektieren und umsetzen. «Wir haben den Obersten Gerichtshof Kanadas dazu gebracht, unsere Rechtsansprüche und Landtitel anzuerkennen, aber umgesetzt wurde davon nichts», sagte Manuel. «Und wenn die Betroffenen versuchen, ihre Rechte durchzusetzen, stossen sie auf die Landeshoheit der Provinzen und geraten wieder in die Defensive.» Das hat nichts mit Recht und Ordnung zu tun, sondern allein mit Macht – und Geld, das die Provinzen (die oft mit Rohstofffirmen verbandelt sind) den «modernen» Chiefs anbieten und damit die Stämme spalten. Und trotzdem haben die traditionellen Chiefs ihre Führungsrolle innerhalb eines Grossteils der Gemeinschaften behalten. 

Idle No More stärkt weltweite Bewegung gegen fossile Energieträger

Dass in einem Land wie Kanada so viele Proteste, Blockaden, Widerstandscamps, Störaktionen, etc. geschehen, hat historische Gründe: Die Regierung verzichtete schon früh in der Kolonialgeschichte darauf, Verträge zu schliessen. Demnach gehört British Columbia und grosse Gebiete in vielen Provinzen den Indigenen. Als die Gier nach Ressourcen Fahrt aufnahm, fing der Widerstand an, noch nicht unter den allgegenwärtigen Augen der sozialen Medien. Erst die Standing-Rock-Demonstration 2016 gegen die Dakota Access Pipeline in den USA machte Schlagzeilen bis nach Europa – dieser von Indigenen und Nicht-Indigenen getragene Protest wäre ohne die katalytische Rolle von Idle No More, die in Kanada zur größten sozialen Bewegung seiner Geschichte wurde und sich in den USA sowie weltweit ausbreitete, undenkbar gewesen.

Idle No More wurde 2013 von 4 Frauen gegründet, die sich gegen die Aufhebung der Vertragsrechte durch die Verabschiedung des Gesetzes C-45 wehrten. 

Logo Idle No More

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Es fühlte sich wie ein kultureller Wendepunkt an. Die Standing Rocks der jüngeren Geschichte Kanadas (siehe unten) schienen nie genügend Nicht-Indigene zu inspirieren, ihre Befreiung mit der Befreiung der indigenen Völker zu verbinden. Die sozialen Medien haben hier eine Wende bewirkt. Namentlich die gerade erfolgte gewaltsame dritte Auflösung der Wet'suwet'en-Blockade bewirkte die Solidarität junger nicht-indigener Kanadier*innen.

Sylvia McAdam (Cree), eine der Gründerinnen von Idle No More an der UNO, 8.3.2013. © Helena Nyberg

Arthur Manuels Vision eines gemeinsamen Vorgehens von indigenen und nicht-indigenen Völkern und NGOs (er meinte auch Incomindios und die Partner der European Alliance), die zusammen Kanada von seinen kolonialen Fesseln befreien, wurde zu seinen Lebzeiten nicht verwirklicht. Aber sein Weg und seine Vision sind klarer als je zuvor. Wenn sie sich erfüllt, wird es Kanada zum Besseren verändern.

Auswahl der besonders bedeutsamen indigenen Widerstandsaktivitäten

Clayoquot Sound (ab 1960)

Seitdem die Provinzregierung von British Columbia die Abholzung von 350’000 Hektar unberührten Naturwäldern (Old Growth) genehmigte, kämpften Nuu-chah-nulth und Umweltschützer*innen gegen den Holzkonzern McMillan Bloedel (seit1999 Weyerhaeuser), Holzfäller-Gemeinden und die Justiz, bis im Jahr 2000 die UNESCO den gesamten Clayoquot Sound zum Biosphärenreservat erklärte. 

Drei Generationen Nuxálk-Landverteidiger, British Columbia, 2009. © Helena Nyberg

Grassy Narrows und Whitedog (ab 1962) 

Von 1962 bis 1970 gelangten 10 Tonnen Quecksilber aus einer Chemie- und Zellstofffabrik in Dryden (Ontario) in das Flusssystem und vergifteten die Fische, Grundnahrungsmittel für die beiden First Nations. Die kommerzielle Fischerei und die damit verbundenen Tourismusbetriebe bildeten ihre Haupteinnahmequelle. Sie haben eine kleine Entschädigung für die gesundheitliche Katastrophe erhalten. Asubpeeschoseewagong (Grassy Narrows) kämpft weiterhin gegen die Abholzung ihres Landes, die ihr Jagdgebiet bedroht. Die langjährige Aktivistin Judy Da Silva erhielt 2019 die Ehrendoktorwürde der Wilfrid Laurier University für ihren Einsatz.

Mackenzie Valley (1974-2017)

Dank des Widerstands einer Koalition aus DeneInuitGwich'in und Métis in Yukon wurde das Projekt der weltweit längsten, umweltgefährdenden Pipeline nicht realisiert (Permafrost). Es war die erste erfolgreiche Verhinderung einer Pipeline.

Oka (1990)

Die Mohawk von Kanesatake wehrten sich gegen den Bau eines Golfplatzes der Gemeinde Oka in Québec. Die Auseinandersetzung, bei der ein Polizist und ein Ältester getötet wurden, dauerte 78 Tage: der Golfplatz wurde nicht gebaut.  

Gustafsen Lake (1995)

Die Konfrontation zwischen traditionellen Shuswap, die in British Columbia auf ihre Landrechte pochten, und einem weissen Rancher, der seine Weiderechte bedroht sah, endete glimpflich aber mit Haftstrafen für die Indigenen. Der Verurteilte James Pitawanakwat entkam in die USA und wurde nicht zurück nach Kanada ausgeliefert – denn die Richterin des US-Bezirksgerichts in Oregon gab seinem Antrag auf politisches Asyl statt: «Eine organisierte Gruppe von Indigenen lehnte sich in ihrem Heimatland gegen die Besetzung ihres heiligen und nicht anerkannten Stammeslandes durch die kanadische Regierung auf; deren Verleumdungs- und Desinformationskampagne behinderte die Medien, das wahre Ausmass und den politischen Charakter der Ereignisse zu erfahren und zu veröffentlichen». So klare Worte aus den USA hat man nie wieder gehört. 

Ipperwash (1995)

Die Stoney Point Ojibway besetzten den Ipperwash Provincial Park in Ontario, um ihren Anspruch auf Land geltend zu machen, welches ihnen im Zweiten Weltkrieg enteignet worden war. Bei einer gewaltsamen Konfrontation erschoss die Ontario Provincial Police den Aktivisten Dudley George. Der Täter wurde zu zwei Jahren Gemeindedienst verurteilt. Eine von Dudleys Familie durchgesetzte Untersuchung brachte offenen Rassismus ans Licht. Der Streitfall wurde erst am 14. April 2016 abgeschlossen. Das Land wurde zusammen mit einer Zahlung von 95 Millionen Dollar an die Kettle und Stoney Point First Nation überschrieben.

Sun Peaks (seit 1997)

Die Regierung von British Columbia genehmigte einen 70 Millionen Dollar teuren Erschliessungsplan, der es dem noblen Skigebiet Sun Peaks ermöglichte, seinen Wintersportort auf 20’000 Betten zu erweitern und Skipisten auf dem bisher unberührten Mt. Morrisey zu bauen. Die Indigenen, die das Recht auf das als Skelkwek'welt bekannte traditionelle Gebiet der SecwepemcNeskonlith und Adams Lake beanspruchten, waren klar gegen die Erweiterung. "Land and Water BC" setzte sich jedoch über ihre Stimmen hinweg und erteilte Sun Peaks Pachtverträge zur Expansion. Ab 2001 stürmte die RCMP drei Mal ein Lager der Secwepemc auf dem Golfplatz des Sun Peaks Resort in der Nähe von Kamloops, British Columbia, nahm Indigene fest und zerstörte das so genannte Skwelkwek'welt Protection Centre. Trotz des Widerstands wurde die Erweiterung von Sun Peaks wie geplant durchgeführt, ebenso wie die Olympischen Spiele 2010 in Kanada.

Burnt Church (1999-2002)

Der Konflikt um Hummerfang ausserhalb der Saison zwischen den Mi'kmaq der Burnt Church First Nations (Esgenoôpetitj) und den nicht-indigenen Fischern in New Brunswick und Nova Scotia artete in tätliche Auseinandersetzungen aus. Nach versenkten Fischerbooten und zerstörten Hummerreusen endete die Krise mit einem Grundsatzabkommen, das den Mi'kmaq das Recht auf Fischfang zu Subsistenzzwecken einräumte, ihnen aber das Recht verweigerte, Hummer zum Verkauf zu fangen.

Unist'ot'en (seit 2012)

Das Unist'ot'en-Camp – gegründet von Freda Huson – leistet seit 10 Jahren aktiven Widerstand gegen Öl- und Gaspipelines der Coastal Gas Link CGL. Sie betreibt am Wedzin Kwa (Morice River) ein Bettenhaus, eine traditionelle Healing Lodge und Permakultur-Gärten gemäss indigener Regeln.

Freda Huson mit Wet’suwet’en Chiefs am Permanenten Forum für Indigene Völker, NY, 26.4.2019

Die Wet'suwet'en kämpfen gegen sieben milliardenschwere Pipeline-Projekte. Vom 18.-21.11.2021 kam es am Gidimt’en Checkpoint und im Coyote Camp zum dritten Mal zu paramilitärischen Übergriffen durch die RCMP und zu willkürlichen Verhaftungen – auch von Journalist*innen. Seit die Gidimt’en (einer der 5 Wet’suwet’en-Clans) am 25.09.2021 das Coyote Camp errichteten, gab es 36 Festnahmen. Das Camp steht dort, wo die CGL den Fluss Wedzin Kwa durchqueren soll.

Alternativer Nobelpreis für Wet’suwet’en-Matriarchin

Freda Huson erhielt am 29.9.2021 den «Right Livelihood Award» "für ihren furchtlosen Einsatz bei der Rückeroberung der Kultur ihres Volkes und der Verteidigung ihres Landes gegen verheerende Pipeline-Projekte".
Seit 2010 lebt Chief Howihkat in einer Blockhütte am Morice River und zeigt damit, wie wichtig es ist, auf dem Land ihrer Vorfahren zu leben. Als führende Persönlichkeit macht sie sich dafür stark, dass indigene Gemeinschaften sich wieder mit ihrem Land verbinden und die Kontrolle darüber zurückerlangen – dazu gehört auch die Entscheidung über Bauprojekte wie Pipelines, die durch ihre Gebiete verlaufen." 

Das Unist’ot’en-Camps, zu dem inzwischen ein Zentrum gehört, das sich der Heilung kolonialer Traumata widmet, ist heute der wichtigste Anlaufpunkt für Menschen, die sich gegen den Bau der Coastal GasLink-Pipeline wehren.

"Husons ganzheitlicher Ansatz, mit dem die Kultur und das Land der Indigenen zurückgewonnen und deren Rechte durchgesetzt werden sollen, steht in krassem Gegensatz zu den grausamen Verbrechen an Indigenen Völkern in Kanada, die in den vergangenen Monaten vermehrt aufgedeckt wurden. Indem sie Indigene wieder mit ihrem angestammten Land verbunden hat, hat Huson entscheidende kulturelle Erneuerungsprozesse angestossen", so die Jury.

Freda Huson (Unist’ot’en), Trägerin des Alternativen Nobelpreises. © We'tsuwet'en

Elsipogtog (2013)

Die Miqmaq in Elsipogtog in New Brunswick unterhielten ein heiliges Feuer und eine Blockade in der Nähe der Kreuzung der Highways 126 und 116 West, um eine Grenze für Fracking in ihrem Feuchtgebiet zu symbolisieren. Sie fordern ein Moratorium und die Anerkennung ihres Rechts auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zu Projekten auf ihrem Gebiet. Derzeit hat sich das Unternehmen Southwestern Energy Resources zurückgezogen.

1492 Land Back Lane (2006)

Haudenosaunee-Landverteidiger besetzten eine Wohnsiedlung in Caledonia, Ontario, die ihrer Ansicht nach auf nicht abgetretenem Gebiet der Six Nations steht: Im April 2021 verkündeten die Chiefs ein Moratorium für die Entwicklung des gesamten Haldimand Tract. Im Konflikt gegen Rohstoffunternehmen und der Regierung von Ontario berufen sich die Haudenosaunee auf eine Schenkung von 1784, mit der die britische Regierung ihren Verbündeten im Krieg gegen die USA eine neue Heimat gegeben hatte.

Martin Lukacs, Helena Nyberg

Der Artikel erschien im MagazINC Nr. 57 / Dezember 2021


Zu den Autoren:

Martin Lukacs ist kanadischer Enthüllungsjournalist und Autor; er war Mitglied des nationalen Organisationskomitees der «Defenders of the Land». 

Übersetzung, Bearbeitung und Chronologie: 
Helena Nyberg, Zürich, Menschenrechtsexpertin Incomindios
www.incomindios.ch

Quelle: Environmental Justice Atlas https://ejatlas.org