Das dunkelste Kapitel der Geschichte Nordamerikas
Jetzt weiss die Welt endgültig, was die Indigenen Amerikas seit über 100 Jahren belastet: Sie mussten zusehen, wie ihnen ihre Kinder entrissen worden sind, um in entfernten Internatsschulen zwangsinterniert zu werden – ein generationenübergreifendes Trauma.
Den Stein ins Rollen brachten am 27. Mai 2021 die sterblichen Überreste von 215 unidentifizierten Kindern, die mit einer Radarsondierung auf dem Gelände der ehemaligen Kamloops Residential School in British Columbia entdeckt wurden. Angehörige vermisster Kinder reisten an, wollten wissen, ob sie ihre Kinder umbetten und zuhause beerdigen könnten, um so mit dem schlimmsten Kapitel ihres Lebens endlich abzuschließen.
Dann ging es Schlag auf Schlag: Innert weniger Wochen jagten sich Horromeldungen aus mehreren Provinzen Kanadas, in denen ehemalige Residential Schools weitere Kinderleichen auf dem Schulareal identifizierten. Bis zum 19. August sind 1.807 unmarkierte Kindergräber gefunden worden, bei elf untersuchten Internatsschulen.
Es sind ungetaufte Säuglinge und Teenagermütter dabei. Zur Untersützung ehemaliger Schüler*innen und Betroffener wurde ein nationales Krisentelefon eingerichtet.
In Kanada waren die 150.000 traumatisierten Opfer der 150 Residential Schools in einem großteils von Kirchen betriebenen System gefangen, das zwischen 1879 und 1996 auf die Auslöschung der indigenen Kulturen zielte: Die Kinder der First Nations, Métis und Inuit sollten von ihren Eltern und Traditionen abgetrennt und an das weisse Kanada assimiliert werden. 3.213 unbekannte Kindergräber werden vermutet; 4.100 Kinder sollen in den Internaten an Hunger und Krankheit gestorben sein. Andere Quellen sprechen von annähernd 25.000 Todesfällen; bis zu 6.000 Kinder werden vermisst.
Bereits 1819 erließen die USA den Indian Civilization Act zur Einrichtung von über 360 Boarding Schools im ganzen Land.
Auch die heutige indigene Innenministerin Deb Haaland ist betroffen:
«Ich bin ein Beispiel für diese grausame Assimilationspolitik.Meine Grosseltern mütterlicherseits wurden im Alter von nur acht Jahren aus ihren Familien gerissen und mussten bis zu ihrem 13. Lebensjahr fern von ihren Eltern, ihrer Kultur und ihrer Gemeinschaft leben»
Man schätzt die Zahl der toten Kinder auf 40.000, aber es gibt keine Statistik über Vermisstmeldungen, Ein- oder Austritte.
Indigene Kinder wurden im Unterschied zu kanadischen nicht separat erfasst; sie erschienen in Bundesstatistiken als «something else».
Das System zur Tötung des «Indianers im Kind»
Dieser «Zivilisierungsauftrag» der kanadischen Regierung wurde mit Vernachlässigung, Demütigung, Essensentzug, sexueller Misshandlung und roher Gewalt durchgedrückt. Im Unterricht wurde der Fokus auf körperliche Arbeit und religiöse Unterweisung gelegt. Die eigene Kultur musste unter Strafandrohung vergessen werden, so auch die Sprache. Tuberkulose und Unterernährung grassierten. Es ging soweit, dass in sechs Internatsschulen Kanadas mit fast 1.000 Zöglingen zwischen 1948 und 1952 medizinische Versuche und Ernährungsexperimente durchgeführt wurden – nicht aber zum Wohl der Kinder.
In den 1940er Jahren wurden tuberkulosekranke Schüler*innen in rassisch getrennte, unterversorgte Krankenhäuser oder Sanatorien geschickt, in der Regel ohne Wissen oder Zustimmung ihrer Eltern. Hier blieben sie oft jahrelang. Kurz, die schulische und medizinische Versorgung indigener Kinder war katastrophal. Generationen von Regierungsbeamt*innen und Politiker*innen wussten, dass die schlechten Bedingungen zum Tod von Kindern führten, und sie unternahmen nichts. Es darf nicht vergessen werden, dass Eltern anfangs im guten Glauben ihre Kinder weggaben, später unter Haftandrohung – und daran zerbrachen.
Handfeste Beweise erhärten, was Generationen wussten
Es kam zu Mahnwachen und Protesten in ganz Kanada. Am Canada Day, dem am 1. Juli gefeierten Nationaltag des Landes, wurden katholische und anglikanische Kirchen attackiert und angezündet. In Winnipeg wurden die Statuen von Queen Victoria und Königin Elisabeth II. gestürzt. Die betroffenen indigenen Stämme wollen die Suche nach unmarkierten Gräbern und die Bergung der Überreste ihrer Kinder nach ihren Zeremonien regeln, unter Ausschluss von Presse und (weißer) Öffentlichkeit – in Kanada werden die Grabfunde aber als «Tatorte» gesehen und unterstehen so der Polizei.
Die Indigenen brauchen Geduld, denn aufgrund fehlender oder zurückgehaltener Daten lässt sich vielfach nicht mehr rekonstruieren, um welche Kinder es sich bei den sterblichen Überresten handelt. DNA-Analysen gestalten sich schwierig, besonders wenn keine direkten Nachkommen der Opfer mehr leben. Zwanzig Jahre lang hatten 36 indigene Gemeinschaften aus B.C. und weitere 38 aus entfernter liegenden Provinzen wie Alberta oder Yukon umsonst die Aushändigung des Schularchivs von Kamloops verlangt. Ihre vermisste Kinder waren zwischen 1943 und 1952 nach Kamloops gebracht worden.
Die Ordensbrüder und -schwestern der «Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria» leiteten etwa 47% der kanadischen Internatsschulen, darunter auch die Schule in Kamloops. Die katholische Kirche Kanadas verspricht nun plötzlich, alle verfügbaren Daten zugänglich zu machen.
Bis heute hat Papst Franziskus den Tod der indigenen Kinder bedauert, nicht aber eine Entschuldigung ausgesprochen. Er hat sich bereit erklärt, im Dezember 2021 eine Delegation von Betroffenen zu treffen. Ob er die Täter*innen in den eigenen Reihen post mortem verurteilt, ist fraglich, denn in 38.000 Missbrauchsklagen wurden bis anhin nur 50 Angeklagte gerichtlich verurteilt. Zum Beispiel verbringt ein über 90jähriger Oblatenpriester, der des sexuellen Missbrauchs von Inuit-Kindern in mehreren Nunavut-Gemeinden beschuldigt wird, ein ruhiges Leben in Frankreich, obwohl 1998 ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde.
Chronologie einer unrühmlichen Regierungspolitik
Jahrelang verlangten die Indigenen eine nationale Untersuchung. 2008 wurde in Kanada eine Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) eingesetzt, welche durch die Anhörung von Betroffenen die Geschichte und das Trauma der Residential Schools aufarbeiten sollte. Das Land erlebte die bis heute größte juristische Sammelkage, welche zum aussergerichtlichen Indian Residential School Settlement Agreement führte:
Bis 2016 erhielten 79.309 von 85.000 Betroffenen Kompensationszahlungen von CA$ 1.622.422.106, umgerechnet 20.000 Dollar pro Opfer. Mit dieser «Ablasszahlung» glaubte die Regierung, das Thema abschließen zu können. Die Kosten der TRC überließ sie den Indigenen, wie das TRC-Kommissionsmitglied Grand Chief Willie Littlechild an der UNO persönlich erzählt hat. Er ist selbst ein Opfer der Residential Schools.
Von den 94 Handlungsempfehlungen (Calls to Action), welche die TRC 2015 in ihrem Abschlussbericht vorlegte, hat die Regierung bis 2021 ganze neun umgesetzt. 2007 trat das Jordan's Principle in Kraft, benannt nach dem fünfjährigen Jordan River Anderson, der starb, während die Regierungen der Provinz Manitoba und des Bundes um die Zuständigkeit für seine Versorgung stritten. Das Jordan-Prinzip soll sicherstellen, dass alle indigenen Kinder Zugang zur benötigten medizinischen Versorgung und Unterstützung haben.
Zwar «entschuldigte» sich 2008 der damalige Premier Stephen Harper für das «vergangene» Unrecht, wälzte aber wie sein Nachfolger Justin Trudeau die Schuld auf die Kirchen als Betreiberinnen der Internatsschulen ab. Die Geistlichen der katholischen, anglikanischen, presbyterianischen, methodistischen sowie der kongregationalistischen Kirche haben Missbrauch und Folter zu verantworten, aber sie handelten im Auftrag der Regierung. So mutet es bizarr an, dass Trudeau nun eine Entschuldigung des Papstes verlangt, ohne laut und deutlich die Verantwortung der kanadischen Regierung anzuerkennen.
2009 hatte die TRC CA$ 1,5 Millionen gefordert, um bei Internaten nach Kindergräbern zu suchen. Die Mittel wurden ihnen damals verwehrt. Am 11. August versprach die Regierung CA$ 320 Millionen, um die betroffenen Gemeinschaften zu unterstützen; von diesen Mitteln sollen CA$ 20 Millionen für ein nationales Denkmal aufgewendet werden...
Erst 2016 nahm Kanada – mit Vorbehalten – die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (2007) an, deren Ziel es ist, Rechte zu verankern, welche «die Mindeststandards für das Überleben, die Würde und das Wohlergehen der indigenen Völker der Welt verkörpern».
Pflaster auf alte Wunden
Politiker*innen und Kirchenkreise reden von «schockierenden Begebenheiten» – das klingt in den Ohren der Betroffenen zynisch, angemessen wäre es von Völkermord zu sprechen. Von Genozid und endemischer Rassenpolitik spricht auch der ehemalige «Unabhängige Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung» der UNO, Alfred de Zayas:
«Es ist das grausigste Kapitel in der 400jährigen Geschichte des kanadischen Kolonialismus. Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert fand ein Clash of Civilizations statt, mit der Ausmerzung ganzer Stämme, dem Abbrennen indigener Dörfer, dem Landraub und der Plünderung ihrer Ressourcen. Der Schock in der weißen Gesellschaft mag ehrlich sein, aber es ist, als ob man neue Heftpflaster auf alte Wunden klebt, die nie verheilt sind.»
Als die Internate in den 1960er bis 1980er Jahren langsam aufgelöst wurden, sind tausende indigener Kinder gegen den Willen ihrer Familien in Pflegefamilien untergebracht worden, auch ausserhalb Kanadas. Noch heute sind indigene Kinder im Kinderfürsorgesystem des Landes überrepräsentiert. Momentan sind mehr Kinder und Jugendliche bei Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht, als je in den Internaten platziert worden sind – als ob das weiße Fürsorgesystem das Internatssystem abgelöst hat.
USA: Deb Haalands rasche Reaktion
Die Suche nach Kinderleichen in ehemaligen Boarding Schools fing umgehend auch in den USA an. Im berüchtigten Carlisle-Internat in Pennsylvania fand man 180 unmarkierte Gräber. Die indigene Innenministerin Deb Haaland wies ihre Behörde an, einen detaillierten Bericht über das US-Internatssystem und mögliche unbekannte Gräber von vermissten Kindern zu erstellen. «Das Innenministerium wird sich mit den generationenübergreifenden Auswirkungen der Boarding Schools befassen, um Licht in die nicht offen ausgesprochenen Traumata der Vergangenheit zu bringen, so schwer und schmerzhaft dieser Prozess auch sein wird», sagte Haaland. «Er wird unseren Verlust nicht ungeschehen machen. Aber nur wenn wir die Vergangenheit würdigen, können wir auf eine Zukunft hinarbeiten, auf die wir alle stolz sein können». Haaland zitierte Statistiken der National Native American Boarding School Healing Coalition, wonach bis 1926 mehr als 80% der indigenen Kinder im schulpflichtigen Alter Internate besuchten, die entweder von der Bundesregierung oder von religiösen Einrichtungen betrieben wurden.
Fazit:
Die grausigen Funde in Kanada und den USA sollen uns daran erinnern, dass weltweit Kinder aus indigenen Gemeinschaften oder Minderheiten weggenommen worden sind – so auch in der Schweiz: Zwischen 1926 und 1973 nahm die Stiftung Pro Juventute mit Hilfe der Behörden mehrere hundert Kinder aus «Vagantenfamilien» ihren Eltern weg, mit dem Ziel, die Kultur der Fahrenden, vor allem der Jenischen zu zerstören.
Helena Nyberg, Zürich,
Menschenrechtsexpertin Incomindios
www.incomindios.ch
Der Artikel erschien im amerindias-Newsletter vom Oktober 2021 der Zeitschrift des NONAM - North America Native Museum in Zürich.