Juni 6, 2020

Die hässliche Fratze des Kolonialismus in Zeiten der Pandemie

Nicht genug, dass einige Indigene Völker in Nordamerika überproportional auf physische Weise von COVID 19 betroffen sind, lässt der Virus teils verborgene koloniale Strukturen wieder deutlich sichtbarer zum Vorschein treten. Zunehmende Spannungen zwischen Indigenen Völkern und der dominanten Siedlergesellschaft manifestieren sich zusehends und nehmen unterschiedliche, wenn auch ähnlich geprägte Formen an.

Kanada: Bedrohung der „Tiny House Warriors“

Beispielsweise steigen individuelle, gewalttätige Übergriffe auf Indigene und ihr Eigentum innerhalb ihrer traditionellen Territorien.

So geschehen in der kanadischen Provinz British Columbia, als 4 nicht-indigene Personen auf dem traditionellen Gebiet der Secwepemc in das Camp der Tiny House Warriors eindrangen, diese bedrohten und sowohl Camp-Konstruktionen als auch ein Geländefahrzeug beschädigten. 

Anonyme Drohungen, die Indigenen mit Virus verseuchten Decken anzustecken, lassen zudem nie verheilte Wunden wieder aufbrechen. 

Anmerkung:
Die Tiny House Warriors verwehren sich gegen den Bau der Trans Mountain Pipeline und der dafür notwendigen Baracken zur Beherbergung von Bauarbeitern - sogenannte „Man Camps“ - auf traditionellem Secwepemc Gebiet. Neben der massiven physischen Bedrohung durch alkoholisierte Männer, welche „Man Camps“ stets implizieren, ist dadurch auch in Zeiten von COVID 19 eine wesentlich höhere Ansteckungsgefahr auf indigenem Territorium gegeben. 

Kanada: “Spirit of the Buffalo Camp” zerstört

Ein vergleichbarer Vorfall ereignete sich etwa zeitgleich in Manitoba, nahe der US-Grenze. Das von Indigenen gegen den Bau der Enbridge Pipeline Line 3 errichtete „Spirit of the Buffalo Camp“ brannte komplett nieder. 

Spirit of the Buffalo Camp

Keine AktivistInnen waren zu dieser Zeit anwesend. Diese vermuten Brandstiftung durch nicht-indigene Pipeline-Befürworter, welche sie bereits mehrmals verbal und non-verbal bedroht hatten.

Die häufig von Indigenen aufgrund von Voreingenommenheit kritisierte Royal Canadian Mounted Police (RCMP)ermittelte bisher vergebens in beiden Fällen.

USA: Angriff auf die COVID-19-bedingten Absperrungen der Paiute Nations

Weiter südlich in den USA offenbart sich koloniale Aggression während der Pandemie auf ähnliche Weise:

Als Reaktion auf die regionale Zunahme von COVID 19 Fällen sperrten die im Bundesstaat Nevada befindlichen Paiute Nations den Zugang für Nicht-Stammesangehörige auf ihren Territorien.

Walker River, Paiute Nation

Selbige Länder beinhalten auch für Nicht-Indigene beliebte Ausflugsziele. Prompt wurden Absperrungsschilder des Walker River Paiute Tribe von Unbekannten mit Schrotmunition durchlöchert und demontiert.

USA: Kein Recht auf Straßenkontrollen durch die Lakota Nations auf ihrem eigenen Gebiet?

Ein weiteres Beispiel trägt zwar dieselben Gesichtszüge kolonialer Gewalt, zeigt sein hässliches Antlitz jedoch auf etwas subtilere Art und weniger anonym, dafür allerdings auf breiter, strukturell-institutioneller Ebene projizierend:  

Im Bundesstaat South Dakota errichteten die indigenen Lakota Nationen – der Cheyenne River Sioux Tribe und der Oglala Sioux Tribe - Straßenkontrollen zum Schutze der Bewohner auf ihrem offiziell anerkannten Gebieten vor COVID 19. 

Die aggressive Reaktion seitens der Gouverneurin von South Dakota Kristi Noem ließ nicht lange auf sich warten: Sie stellte ein Ultimatum von 48 Stunden. Die Straßenkontrollen seien zu entfernen, da diese den Verkehr auf öffentlichen Bundesstraßen und Highways behindern würden, andernfalls drohte sie Konsequenzen an. 

Kristi Noem ruderte alsbald etwas zurück, das 48 Stunden Ultimatum konnte sie nicht durchsetzen. Die Aufforderung, die Straßenkontrollen unverzüglich abzubauen, blieb jedoch bestehen. 

Die indigenen Stammesvertreter zeigen sich bislang unbeeindruckt – ihre Schutzmaßnahmen sind durchaus berechtigt, da auf ihren Territorien wesentlich höhere, von ihnen verordnete Standards gegen den Virus gelten, als im übrigen Gebiet des Bundesstaats South Dakota. 

Wie lange sich jedoch die „nations within“ - die anerkannten, jedoch gleichzeitig durch koloniale Dominanz beschnittenen indigenen Nationen innerhalb der USA auf ihre Selbstbestimmungsrechte berufen können, bleibt abzuwarten. 

Gesellschaftlich tief verankerter Kolonialismus

Die angeführten Beispiele sind lediglich ein kleiner Auszug hinsichtlich des Spannungsanstiegs bezüglich Indigener Völker Nordamerikas in Zeiten einer Pandemie. 

Der gesellschaftlich tief verankerte Kolonialismus – ansonsten besser verdeckt unter dem Mantel moderner Demokratien – zeigt seine Fratze nun deutlich wahrnehmbarer: 

Ob durch anonyme, individuelle Übergriffe auf indigenen Widerstand oder kollektive, institutionelle Attacken auf die Selbstbestimmung Indigener Völker, Angst und Unsicherheit – insbesondere ausgelöst durch eine abstrakte Gefahr - destabilisieren die Gesellschaft und nähren ihren Boden mit der Saat der Gewalt. 

Trotz der massiven inhärenten Bedrohung, die eine derartige Entwicklung insbesondere für Indigene Völker impliziert, birgt sie auch einen Funken Hoffnung

Durch die verbesserte Sichtbarkeit kolonialer Gewalt, ist diese auch klarer für die Öffentlichkeit anzuprangern, ihre tief verwurzelten, fortwährenden Machtstrukturen zu demaskieren und der Fratze des Kolonialismus entschieden entgegenzutreten.

Gawan Maringer