Februar 10, 2022

46 Minuten für 46 Jahre: Eine Mahnwache für Leonard Peltier

Wien, 6. Februar 2022

„Dieser Leonard Peltier – ist das ein Bekannter von Ihnen?“, fragt mich der Polizeibeamte vor der US-amerikanischen Botschaft.
Anlässlich des Jahrestags der Verhaftung von Leonard Peltier halten wir eine Mahnwache ab:
46 Minuten für 46 Jahre

Leonard Peltier – Ein alter Bekannter?

Die Frage des Beamten kam für mich überraschend und ich wusste nicht gleich, was ich antworten sollte. 

Natürlich kenne ich Leonard Peltier nicht persönlich. In diesem Sinne ist er nicht mein Bekannter. Andererseits verfolge ich seine Geschichte mittlerweile seit über 20 Jahren. Als 12-Jährige beschäftigte ich mich erstmals mit dem American Indian Movement (AIM), las über die Besetzungen von Alcatraz und Wounded Knee – und über die Verhaftung und Verurteilung Leonard Peltiers.
Ich kann mich gut an meine Fassungslosigkeit und Wut erinnern: „America – Land of the Free!“, wie heuchlerisch kam mir das vor! Die ohnmächtige Empörung meines Teenager-Selbst hielt meine ganze Familie eine Weile auf Trab.

Leonard Peltier – eine Symbolfigur 

21 Jahre später stehe ich vor der US-amerikanischen Botschaft. Es ist eiskalt und der Sturm reißt uns das Banner fast aus den Händen. Meine Zehen sind gefühlt bereits Eiszapfen und ich tue mir schwer, die Flyer und Postkarten mit meinen steifen Fingern an die Passant*innen auszuteilen. Aber das ist es wert. Ich bin keine 12 mehr und meine Empörung nicht mehr ohnmächtig. 

Welchen Unterschied macht eine Mahnwache vor der Botschaft in einem kleinen Land, eine halbe Welt von den USA entfernt? Was sind schon ein paar Unterschriften in einer Petition von vielen? Wird das Präsident Joe Biden umstimmen und zur Freilassung Leonard Peltiers führen? 

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es wichtig ist.

Es macht einen Unterschied, wenn es Menschen gibt, die gegen Ungerechtigkeit aufstehen. Wenn wir Leonard Peltier und seiner Familie zeigen, dass er nicht vergessen wurde während der Jahrzehnte hinter den Gefängnismauern.

Leonard Peltier ist für mich Symbolfigur des strukturellen Rassismus in den USA. Er ist einer der weltweit bekanntesten und am längsten inhaftierten politischen Gefangenen. Seine Geschichte steht für vieles, was falsch läuft in unserer Welt, ist aber gleichzeitig auch ein Beispiel wie anhaltend und kraftvoll internationale Solidarität sein kann. 

Wissen schafft Bewusstsein

Ja, ich bin Idealistin und Optimistin. Aber mir ist auch klar, dass unsere 46 Minuten hier in Wien nicht ausschlaggebend sein werden im Bezug auf eine Freilassung Leonard Peltiers. Aber in diesen zweimal 46 Minuten am 6. und 7. Februar vor der Botschaft hat nicht nur der Polizeibeamte nachgefragt, wer Leonard Peltier sei. Etliche Passant*innen blieben stehen, sahen sich unser Banner an und ließen sich von uns die Kurzversion von Peltiers Geschichte erzählen. Flyer und Postkarten wurden mit nach Hause genommen – vielleicht finden einige ihren Weg bis ins Weiße Haus, vielleicht wird Leonard Peltiers Geschichte weitergegeben und löst hier und dort Wut, Empörung, aber auch Solidaritätsbekundungen aus.

Klick auf das Bild öffnet den Flyer, der
auf der Mahnwache ausgeteilt wurde

Heinz Wagner vom Kinderkurier berichtete seinen Leser*innen von unserer Aktion (https://kijuku.at/initiativen/schwerstkranker-indigener-aktivist-seit-46-jahren-in-us-haft/) und macht auf Leonard Peltier aufmerksam. 

Bereits als Schülerin war es meine Mission, meine Mitmenschen über die heutige Situation indigener Menschen in Nordamerika aufzuklären – weg vom Cowboy-und-Indianer-Disney-Klischee. Und genau das war auch vor der Botschaft mein Ziel: Der Welt mitzuteilen, dass es Leonard Peltier gibt. Dass er unschuldig im Gefängnis ist, dass er kürzlich an COVID-19 erkrankte. Und für die, die ihn kennen: Dass er immer noch nicht freigelassen wurde. Seit 46 Jahren.

Gefangenschaft von 1976 bis 2022

Was waren die politischen Hintergründe der Besetzung von Wounded Knee 1973? Welche Rolle spielte Leonard Peltier und wie kam es zu seiner Verhaftung? Wie ist seine Situation heute? 

Das American Indian Movement (AIM)

1968 hatte sich unter dem Einfluss der Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Vietnam-Proteste in Minneapolis das American Indian Movement gegründet. Insbesondere in den Städten sahen sich die dort lebenden Indianer*innen nicht nur Armut und Elend ausgesetzt, sondern vor allem Diskriminierung, Rassismus und Polizeiwillkür. Viele dieser Indianer*innen hatten für die USA in Vietnam gekämpft und wurden nach ihrer Rückkehr als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt. Es war Zeit, aktiv zu werden.

Besetzung von Wounded Knee in der Pine Ridge Reservation

Wounded Knee ist ein Symbol für den amerikanischen Völkermord an den Indianer*innen. Im Winter 1890 wurden hier bei einem Massaker 300 wehrlose Indianer*innen, darunter Alte, Frauen und Kinder, von der 7. Kavallerie brutal niedergemetzelt. 

Pine Ridge war 1973 die ärmste Region der gesamten USA - und ist es bis heute. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 80%, die Bevölkerung leidet unter miserablen Wohnverhältnissen, Krankheiten und Selbstmorden.

Am 27. Februar 1973 besetzten rund 200 Indianer*innen die historische Stätte von Wounded Knee auf der Pine Ridge Reservation im US-Bundesstaat South Dakota. Die dort lebenden traditionellen Lakota-Indianer*innen hatten die Aktivist*innen des American Indian Movement (AIM) um Hilfe gebeten, nachdem die Situation im Reservat immer unerträglicher wurde. Stammespräsident Dick Wilson, Vorsitzender einer Marionettenregierung am Gängelband Washingtons, hatte auf dem Reservat mit Hilfe einer eigenen Schlägertruppe, der „Goons“, ein korruptes Terrorregime errichtet, mit dem er den Protest von Traditionellen und Aktivist*innen gegen den Uranabbau auf ihrem Land und den Ausverkauf der Black Hills - der heiligen Berge der Lakota - zum Schweigen bringen wollte. Rund 60 Aktivist*innen wurden in diesen Jahren von den Handlangern des Regimes ermordet. 

Aufstand der Indianer*innen

Nach der Besetzung von Alcatraz 1969 und dem Marsch nach Washington 1973 wollten die Aktivist*innen nun in Wounded Knee ein Zeichen setzen. Ihre Botschaft war klar: Anerkennung ihrer Kultur, ihrer Landrechte und ihres Selbstbestimmungsrechts. Die Regierung in Washington sollte erkennen, dass der amerikanische Traum für die Indianer*innen nur ein Albtraum war – und diese Botschaft ging in die ganze Welt. Presse und Medien berichteten auch in Deutschland über diesen Aufstand der Indianer*innen, die sich weigerten, ihre Traditionen und Kultur dem American Way of Life zu opfern. Die fast vergessenen Indianer*innen machten plötzlich wieder Schlagzeilen. 

Die Gegenseite reagierte mit Gewalt, Panzern, Helikoptern, FBI und Nationalgarde. 71 Tage verschanzten sich die Indianer*innen in der alten Trading Post, bevor sie – ohne Nahrung und Munition – am 8. Mai 1973 aufgeben mussten. Zwei der indianischen Besetzer*innen waren im Kugelhagel der Marshalls und der Armee gestorben, und die Anführer, u.a. Dennis Banks (verstorben 2017) und Russell Means (verstorben 2012) wurden vor Gericht gestellt. Sämtliche Anklagen gegen sie endeten mit Freispruch. Doch in Pine Ridge gingen die Schlägertruppe der Stammesregierung weiterhin gegen Traditionelle und Aktivist*innenen vor, und das FBI verschärfte seine Infiltrations- und Einschüchterungspolitik.

 Kein Freispruch für Leonard Peltier

Ein Opfer dieser Politik ist Leonard Peltier, der 1976 aufgrund einer ungesetzlichen Auslieferung von Kanada an die USA, eines Prozesses voller Verfahrensfehler, gefälschter Zeugenaussagen und vom FBI geschwärzter Dokumente zu zwei Mal lebenslänglich für einen Mord an zwei FBI-Beamten verurteilt wurde, den er nicht begangen hat. Es gibt keine Beweise für seine Schuld. Auch Richter und Anwälte, die damals an den Verfahren beteiligt waren, haben dies mittlerweile eingeräumt und für seine Freilassung plädiert. Bis heute sitzt Leonard Peltier im Gefängnis. 

Trotz gravierender Gesundheitsprobleme kann der Aktivist, für den sich Menschenrechts-Aktivist*innen in aller Welt eingesetzt haben, erst 2024 einen Bewährungsantrag stellen. Wenn US-Präsident Joe Biden den internationalen Appell zur Begnadigung ablehnt, wird Peltier erst 2040 aus der Haft entlassen. Seine Situation hat sich nun dramatisch verschärft, da er sich mit COVID-19 infizierte – aufgrund seiner Vorerkrankungen ist dies für Leonard Peltier lebensbedrohlich. 

Mahnwache vor der amerikanischen Botschaft in Wien am 6. Februar 2022

Leonard Peltier – Ein Bekannter!

Millionen Menschen haben Petitionen für Leonard Peltier unterzeichnet, Amnesty International hat ihn als politischen Gefangenen anerkannt, und auch Persönlichkeiten wie Desmond Tutu oder Nelson Mandela haben sich für seine Freilassung eingesetzt. 

Das führt mich zurück zur Frage des Polizeibeamten vor der amerikanischen Botschaft an diesem kalten Februartag: „Dieser Leonard Peltier – ist das ein Bekannter von Ihnen?“ Jetzt lautet meine Antwort ganz klar: „JA!“ Leonard Peltier mag nicht mein Bekannter sein, aber er ist bekannt. Weltweit. Und wir sorgen gemeinsam dafür, dass das so bleibt. 

Im Anschluss an die Mahnwache hat meine 67-jährige Mutter all ihre Englischkenntnisse zusammengerafft und einen Brief an Leonard Peltier geschrieben. Peinlich genau befolgte sie alle Anweisungen zu Postsendungen an Gefängnisinsassen, damit der Brief Leonard Peltier auch wirklich erreicht. Der letzte Satz in ihrem Brief ist: „You are not alone!“ Und sie hat recht. Denn eine Bekanntschaft ist nicht einseitig. Wir kennen Leonard Peltier und werden nicht aufhören uns für seine Freilassung einzusetzen. Und genauso kennt er uns und weiß, dass es uns gibt. Ich hoffe, das gibt ihm Kraft. 

Monika Gamillscheg

Bitte unterzeichnen Sie die Petition für die Freilassung von Leonard Peltier! 


Zur Autorin:

Monika Gamillscheg engagiert sich seit Herbst 2021 im Arbeitskreis Indianer Nordamerikas. Die studierte Kultur- und Sozialanthropologin forschte für ihre Diplomarbeit über die Kunst der First Nations in Vancouver, Kanada (https://utheses.univie.ac.at/detail/12059#). Sie arbeitete u.a. bei der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar und beschäftigte sich in dieser Tätigkeit weiterhin mit indigenen Völkern, z.B. auf den Philippinen. Als Fellow bei Teach for Austria unterrichtete sie die letzten drei Jahre an einer Wiener Brennpunktschule.