Die Analysen historischer Dokumente und mündlicher Überlieferungen in der Dissertation von Yvette Running Horse Collin liefern eine überzeugend neue Geschichte des Pferdes in Amerika.
Die Ergebnisse der Dissertation von Yvette Running Horse Collin legen nahe, dass jedes Naturkundebuch umgeschrieben werden müsste. Die Lakota/Nakota/Cheyenne-Wissenschaftlerin hatte im Rahmen des Programms für Indigene Studien an der University of Alaska, Fairbanks, genügend Material, um eine überzeugende neue Geschichte des Pferdes in Amerika dokumentieren zu können: fossile Beweisstücke, historische Dokumente und mündliche Überlieferungen.
Das Pferd war schon lange vor den Siedlern hier
"Wir wissen, dass wir das Pferd schon immer hatten, lange bevor die Siedler kamen. Die Spanier sind nie durch unser Gebiet gekommen, also gibt es keine Möglichkeit, dass sie es bei uns eingeführt haben", heißt es in einem Zitat eines Blackfoot (Nitsitapi) in Yvette Running Horse Collin‘s Dissertationsstudie
Kolumbus brachte nicht die ersten Pferde nach Amerika
Die ursprüngliche, von der westlichen Welt akzeptierte Theorie war, dass es vor der Ankunft von Kolumbus im Jahr 1492 keine Pferde in Amerika gab. Die westliche Welt schloss daraus, dass alle Pferde der amerikanischen Ureinwohner Nachkommen von Pferden waren, die aus Übersee eingeführt worden waren.
Diese Theorie musste jedoch revidiert werden, nachdem der Paläontologie-Pionier Joseph Leidy in den 1830er Jahren Pferdeskelette in Amerika ausgegraben hatte. Sie wurden als die ältesten der Welt datiert. Die wissenschaftliche Community in Amerika war empört und stellte seine Erkenntnisse in Frage. Letztendlich waren sie aber gezwungen, die von Joseph Leidy vorgelegten Beweise zu akzeptieren
Zu diesem Zeitpunkt änderte sich die Ansicht dahingehend, dass die Pferde ursprünglich aus Amerika stammten, später aber aufgrund der letzten Eiszeit (vor etwa 13.000 bis 11.000 Jahren) vollständig ausgerottet wurden. Daher glaubte man damals immer noch, dass die Spanier das Pferd in den späten 1400er Jahren in Amerika "wieder einführten".
Collin widerlegt die Einführung des Pferdes durch die Spanier bei den Ureinwohnern
Durch die Arbeit von Yvette Running Horse Collin kann die Theorie erneut aufgegriffen werden, dass die amerikanischen Ureinwohner immer eine dauerhafte Beziehung zum Pferd hatten. In der Dissertation stellt sie eine Reihe von Beweisen - basierend auf Fossilien und DNA-Analysen - zusammen, die aus der Zeit nach diesem angeblichen "Aussterben" stammen.
"Das Wunderbare ist, dass wir heute über westliche Technologien verfügen, die sehr genaue Daten liefern können", sagte Yvette in einem kürzlich geführten Interview. "Viele Studien zeigen, dass es diese Pferde nach jener Eiszeit gab, die sie angeblich alle ausgerottet hat. Die überzeugendsten Daten, die die Erzählungen der Ureinwohner untermauern, stammen also von vielen westlichen wissenschaftlichen Messungen, die jetzt veröffentlicht werden."
Das ist aber noch nicht alles. Sie stützte sich auch auf Beobachtungen in den Tagebüchern und Karten, die von Entdeckern wie Sir Francis Drake, Sebastian Cabot und anderen frühen spanischen Eroberern erstellt wurden. Yvette verweist auf die erste dokumentierte Sichtung von Pferden bei den Ureinwohnern in den Carolinas:
"Kolumbus brachte 1493 das erste spanische Pferd in die Karibik", führt sie weiter aus. "Der erste Beleg über eine Anwesenheit von Pferden auf dem Festland, in der Nähe des heutigen Mexiko City, stammt aus dem Jahr 1519. Die Spanier führten akribisch Buch über jede Stute und jeden Hengst. Die erste dokumentierte Sichtung von Indigenen mit Pferden fand jedoch 1521 statt, und zwar in den Carolinas. In diesem Zeitraum wurden keine spanischen Pferde als "vermisst" gemeldet. Es ist unmöglich, dass spanische Pferde es in nur zwei Jahren durch die dichten Wälder und das Sumpfland bis zu den Carolinas geschafft und sich dort wieder angesiedelt haben."
Yvette Running Horse Collin stützte sich auch auf Interviews mit indianischen Studienteilnehmern aus sieben verschiedenen Nationen. Alle befragten indianischen Gemeinschaften berichteten, dass sie bereits vor der Ankunft der Europäer Pferde besaßen, und jede Gemeinschaft verfügte über eine traditionelle Schöpfungsgeschichte, die den heiligen Platz des Pferdes in ihrer Gesellschaft erklärte.
"Das habe ich nicht erwartet", sagt Yvette. "Wenn man eine Landkarte betrachtet, dann sind diese Nationen überall verstreut. Diese Gemeinschaften sprechen nicht dieselbe Sprache, haben nicht dieselbe Kultur oder dieselben geografischen Gebiete. Dennoch stimmten ihre mündlichen Überlieferungen völlig überein. Sie erzählten alle, dass das Pferd ihnen vom Schöpfer geschenkt wurde, dass die Herkunft der Pferde spiritueller Natur war und dass sie das Pferd nicht von den Europäern erhalten haben."
Die Geschichte des Pferdes wurde absichtlich verzerrt
In der Dissertation wird die These vertreten, dass die Diskrepanz zwischen der spanischen "Wiedereinführungstheorie" und der Geschichte, die sich in den aktuellen Belegen widerspiegelt, mit einer kulturellen Voreingenommenheit zu tun hat, die in der westlichen Wissenschaft immer noch vorhanden ist.
Yvette Running Horse Collin stellt die These auf, dass die Wahrheit über die Beziehung zwischen den Ureinwohnern und dem Pferd absichtlich verzerrt wurde, weil Pferde in Spanien zu jener Zeit ein Symbol für Status und Zivilisation waren und die Eroberer die Ureinwohner als wild und unzivilisiert darstellen mussten, um ihre Eroberung gegenüber der spanischen Königin zu rechtfertigen.
"Als Kolumbus kam, hatten die Spanier gerade einen 800-jährigen Krieg mit den Muslimen beendet", so Yvette. "Königin Isabella sammelte alle Pferde in ihrer Umgebung ein, und diese Pferde wurden Teil ihrer Armee. Mit Hilfe dieser Pferde war sie in der Lage, die Muslime zu besiegen. Das Pferd war also unglaublich wertvoll. Man findet Gemälde von ihr auf diesen wunderschönen Palominos. Das Pferd war für diese Menschen sehr eng mit Adel, Macht und dem Konzept der 'Zivilisation' verbunden."
Aus diesem Grund stellt sie die These auf, dass die Geschichte der Beziehung zwischen den indigenen Völkern Amerikas und ihren Pferden durch eine "interkulturelle Übersetzung" vertuscht und umgeschrieben wurde.
In einem kürzlich geführten Interview gab Yvette weitere Einblicke in die politische und kulturelle Natur der Wissenschaft. Im April 2017 wurden in San Diego Mastodon-Knochen mit von Menschenhand eingeritzten Mustern gefunden. Die Datierung ergab, dass der Mensch bereits vor 130.000 Jahren in diesem Gebiet lebte. Diese wissenschaftliche Datierung unterscheidet sich drastisch von den Daten, die bisher von westlichen Akademikern für die Existenz indigener Völker in Amerika angegeben wurden. Solche Daten reichten höchstens 10.000 bis 15.000 Jahre zurück. Auch hier zeigten sich viele westliche Wissenschaftler zunächst ungläubig und sogar empört über diese neuen Erkenntnisse. Yvette Running Horse Collin sieht eine Parallele zwischen der Reaktion auf diese neuen westlichen Erkenntnisse und den fossilen Beweisen, die zeigen, dass Pferde schon immer auf dem amerikanischen Kontinent lebten.
"Sie versuchen, den Zeitraum den wir hier sind, kürzer als in Wahrheit darzustellen, damit wir für dieses Land als nicht so wichtig erscheinen. Sie sagen: 'Die Ureinwohner kamen über die Landbrücke'. Aber warum? Warum werden wir so dargestellt, als kämen wir von irgendwo anders her? Warum können wir nicht hier gewesen sein? Das ist der erste Punkt. Zweitens wird den Europäern immer noch zugeschrieben, dass sie die Pferde mitbrachten und sie bei den Ureinwohnern einführten. Was bedeutet das? Sie sagen uns immer wieder, dass alles, was sie in unseren Kulturen als wertvoll erachten, immer von ihnen 'abgeleitet' ist."
Die Zufluchtsstätte des Heiligen Wegs
Yvette kümmert sich derzeit um mehr als 100 Pferde, von denen sie sagt, sie seien Nachkommen der alten Pferde Amerikas. Einige haben Mähnen, die bis auf den Boden reichen. Einige haben Streifen an den Beinen. Manche haben Flecken am ganzen Körper. Einige sind viel kleiner als die meisten Pferde. Einige haben gekräuseltes Haar.
Sie hofft, in Zukunft mehr Betreuer*innen für diese Pferde zu finden und eine Bewegung zur Wiederbelebung der indigenen Pferdekultur zu schaffen.
Collin weigert sich nach der Tradition ihrer Vorfahren, ihre Pferde zu verkaufen. Sie verschenkt die Pferde an Menschen, die sich für sie in Zusammenhang mit zeremoniellen oder heilenden Zwecken interessieren und bereit sind, sie nach den kulturellen Traditionen zu pflegen.
Yvette will zu mehr Forschung anregen, um die Wahrheit hinter dem Begriff „verwildert“ ans Licht zu bringen, den die Regierung verwendet, damit sie als „Wildpferde“ durch den Indigenous Species Act geschützt werden können. Gegenwärtig werden "verwilderte" Pferde ausgerottet und massenhaft geschlachtet, wenn sie bestimmten kommerziellen Projekten im Weg stehen.
"Es gibt ganze Pferdepopulationen, die durch Hubschrauber und der ständigen Flucht vor der Regierung so sehr in Mitleidenschaft gezogen und gestresst sind", erklärt Collin. "Und wenn man genauer hinsieht, handelt es sich bei dem Land, auf dem die Pferde leben, um dasselbe Land, auf dem Unternehmen versuchen, Ressourcen oder Wasser zu gewinnen. Sie treiben sie also einfach fort, nehmen ihnen ihre Heimat und die Möglichkeit, einen Lebensraum zu haben, der überhaupt lebenswert ist. Niemand kann gesund sein, wenn man ständig herumgeschubst wird und keinen Platz für sich selbst findet. Sie können nur krank werden, oder?"
Letztendlich ist Yvette Running Horse Collin's Dissertation ein bahnbrechendes Werk umfassender Forschung, das eine Mischung aus westlichen und indigenen Forschungsmethoden verwendet und eine solide Grundlage für weitere Forschungen bilden wird.
Lyla June Johnston
Webseite Sacred Way Sanctuary:
Auf der Webseite von Dr. Yvette Running Horse Collin gibt es Informationen zu ihren Pferdeprogrammen, Möglichkeiten zum Besuch ihres Museums über das indigene Pferd und Ihre Dissertation selbst: www.SacredWaySanctuary.org
Lyla June Johnston
Die Autorin des Artikels, Lyla June Johnston, ist indigene Performance Poetin und Musikerin, Navajo und Cheyenne.
Dr. Yvette Running Horse Collin
Dr. Yvette Running Horse Collin ist eingetragenes Stammesmitglied des Oglala Sioux Tribe (Pine Ridge Reservation, Süddakota) und befindet sich derzeit zu einem Forschungsaufenthalt über Pferdekulturen am Centre for Anthropobiology and Genomics of Toulouse (Frankreich).
Der Artikel erschien im aktualisierten Original „Yes world, there were horses in Native culture before the settlers came” am 30.08.2021 in der digitalen Ausgabe der Zeitschrift „Indian Country Today“. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung durch die Zeitschrift, deutsche. Übersetzung Peter Schwarzbauer.