Auch wer von der hiesigen Indianerliteratur nur die fettgedruckten Zitate auf den Buchrücken gelesen hat, weiß schon fast alles: ‚Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer!‘
Weniger bekannt dürfte sein, dass Indianerinnen noch schlimmer dran waren. Wie zum Beispiel das Shoshone-Mädchen Sacagawea, das im zarten Alter von neunzehn Jahren, mit ihrem einjährigen Sohn auf dem Rücken, die ‚Lewis & Clark‘-Expedition durch den damals noch unerforschten amerikanischen Westen begleitet hatte. Für diese Leistung wurde Sacagawea nach ihrem Tod zur ‚Madonna ihrer Rasse‘ gekürt und mit allerlei Gedenkstatuen im ganzen Land bedacht. Indianerfrauen mussten also mehr als nur tot sein, um der weißen Geschichtsschreibung ‚gut‘ in Erinnerung zu bleiben. Ihnen wurde obendrein ein Beitrag zum Vorstoß der Zivilisation abverlangt.
Recht viel mehr gibt es über ‚die‘ Indianer im allgemeinen nicht zu sagen, und zwar deshalb nicht, weil es die Indianer im Sinne eines Volkes mit mehr oder minder ähnlicher Kultur und Geschichte niemals gegeben hat.
Als sich Columbus in die Neue Welt verirrte, war der nordamerikanische Kontinent von mehreren hundert verschiedenen Stammesgruppen bewohnt. Sie verwendeten ebenso viele Sprachen, die teilweise so unterschiedlich sind wie deutsch und chinesisch. Und auch sonst hatten diese Völker, außer ihrer Haarfarbe, so wenig gemeinsam wie die Isländer mit den Griechen oder Türken. Ihre Lebens- und Wirtschaftsformen waren bestimmt durch die grundverschiedenen Klimazonen, in denen sie lebten.
Weil es ‚den‘ Indianer niemals gab, musste man ihn erfinden. Denn er wurde dringend benötigt und scheinbar brauchen wir ihn heute mehr denn je: als Projektionsfläche für all die Wünsche und Sehnsüchte, um die wir in unserer Gesellschaft tagtäglich betrogen werden. So erklärt sich auch, warum die Klischees vom Indianer stets den jeweiligen Zeitströmungen unterworfen waren. Winnetou herrscht längst nicht mehr allein – er muss sich seinen ‚Einflussbereich‘ mit spirituellen Indianer-Gurus und Ökologie-Propheten, die derzeit groß in Mode sind, teilen.
Früher hatten wir im deutschen Sprachraum unsere Karl May-Geschichten; andere Länder – andere Indianerlegenden. Die Amerikaner zum Beispiel hatten ihre ‚Western‘-Filme und noch früher die sogenannten ‚Grenzer‘-Romane. Denn an der Grenze war viel Platz für die Phantasien der braven Puritaner im Osten.
Klischee’s haben die Eigenheit, dass sie immer auch einen Funken Wahrheit in sich tragen. Das verzerrte Bild ergibt sich vor allem aus der Verallgemeinerung des Wahrheitskerns und durch den unrichtigen Zusammenhang, in dem er dargestellt wird. Ironischerweise geht das am weitesten verbreitete Indianerklischee auf eine indianische Kulturform zurück, die erstens nur eine besonders kurzlebige Sonderform unter den nordamerikanischen Indianerkulturen dargestellt hat, und die zweitens nur durch weißen Einfluss zu ihrer Hochblüte gelangen konnte. Die Rede ist von den Prärie- und Plains-Völkern.
Erst als die indianischen Büffeljäger um die Mitte des 18. Jahrhunderts in den Besitz von Pferden gelangten, die zuvor von Weißen in Nordamerika eingeführt worden waren, konnten sie ihr expansives, kriegerisches Element voll zur Geltung bringen. Doch kaum 150 Jahre später wurde ihrer Kultur durch die Ausrottung des Bisons ein jähes Ende bereitet.
Das Bild vom berittenen, federngeschmückten und kriegsbemalten Prärie-Indianer war ein überaus dankbares Sujet für Generationen von Hollywood-Regisseuren, denen großer ‚Verdienst‘ zukommt. Obwohl sie längst gestorben sind, leben ihre Bilder dennoch weiter; sie sind unausrottbar als Indianerklischees in unseren Köpfen verankert.
Und das ist bedauerlich, weil es der Auseinandersetzung mit der Realität, in der indianische Völker in Nordamerika heute leben müssen, schadet. Gerade heute, wo es ihn erstmals tatsächlich gibt: ‚den‘ Indianer, diesen kulturell keineswegs gleichen, aber sozial und wirtschaftlich gleichgemachten amerikanischen Eingeborenen. Paradoxerweise will von ihm niemand etwas wissen. Von seiner durchschnittlichen Lebenserwartung von unter fünfzig Jahren ebenso wenig, wie von der erschreckend hohen Selbstmordrate seiner Jugendlichen, die zehnmal so hoch ist, wie im übrigen Amerika ….
Reinhard Mandl
Reinhard Mandl lebt als freischaffender Produzent von Tonbildschauen in Wien. Seit 1983 hat er immer wieder Indianerreservate besucht und mehrere Diashows über die Situation nordamerikanischer Indianer produziert.