März 22, 2011

Über Indianer und ihre Erfinder

Auch wer von der hiesigen Indianerliteratur nur die fettgedruckten Zitate auf den Buchrücken gele­sen hat, weiß schon fast alles: ‚Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer!‘

Weniger bekannt dürfte sein, dass Indianerinnen noch schlimmer dran waren. Wie zum Bei­spiel das Shoshone-Mädchen Sacagawea, das im zarten Alter von neunzehn Jahren, mit ihrem ein­jährigen Sohn auf dem Rücken, die ‚Lewis & Clark‘-Expedition durch den damals noch unerforsch­ten amerikanischen Westen begleitet hatte. Für diese Leistung wurde Saca­gawea nach ihrem Tod zur ‚Madonna ihrer Rasse‘ gekürt und mit allerlei Gedenkstatuen im ganzen Land bedacht. In­dianerfrauen mussten also mehr als nur tot sein, um der weißen Geschichtsschreibung ‚gut‘ in Er­innerung zu bleiben. Ihnen wurde obendrein ein Beitrag zum Vorstoß der Zivilisation abverlangt.

Recht viel mehr gibt es über ‚die‘ Indianer im allgemeinen nicht zu sagen, und zwar deshalb nicht, weil es die India­ner im Sinne eines Volkes mit mehr oder minder ähnlicher Kultur und Geschichte niemals gegeben hat.

Als sich Columbus in die Neue Welt verirrte, war der nordamerikanische Kontinent von meh­reren hundert verschie­denen Stammesgruppen bewohnt. Sie verwendeten ebenso viele Sprachen, die teilweise so unterschiedlich sind wie deutsch und chinesisch. Und auch sonst hatten diese Völker, außer ihrer Haarfarbe, so wenig gemeinsam wie die Is­län­der mit den Griechen oder Türken. Ihre Lebens- und Wirtschaftsformen waren bestimmt durch die grundverschie­denen Klimazonen, in denen sie lebten.

Weil es ‚den‘ Indianer niemals gab, musste man ihn erfinden. Denn er wurde dringend benö­tigt und scheinbar brau­chen wir ihn heute mehr denn je: als Projektionsfläche für all die Wünsche und Sehnsüchte, um die wir in unserer Gesell­schaft tagtäglich betrogen werden. So erklärt sich auch, warum die Klischees vom Indianer stets den jeweiligen Zeit­strömungen unterworfen waren. Win­netou herrscht längst nicht mehr allein – er muss sich seinen ‚Ein­flussbereich‘ mit spirituellen India­ner-Gurus und Ökologie-Propheten, die derzeit groß in Mode sind, teilen.
Früher hatten wir im deutschen Sprachraum unsere Karl May-Geschichten; andere Länder – an­dere Indianerlegenden. Die Amerikaner zum Beispiel hatten ihre ‚Western‘-Filme und noch früher die sogenannten ‚Grenzer‘-Romane. Denn an der Grenze war viel Platz für die Phan­tasien der braven Puritaner im Osten.

Klischee’s haben die Eigenheit, dass sie immer auch einen Funken Wahrheit in sich tragen. Das verzerrte Bild ergibt sich vor allem aus der Verallgemeinerung des Wahrheitskerns und durch den unrichtigen Zusammenhang, in dem er darge­stellt wird. Ironischerweise geht das am weitesten verbreitete Indianerklischee auf eine indianische Kulturform zurück, die erstens nur eine beson­ders kurzlebige Sonderform unter den nordamerikanischen Indianerkulturen darge­stellt hat, und die zweitens nur durch weißen Einfluss zu ihrer Hochblüte gelangen konnte. Die Rede ist von den Prä­rie- und Plains-Völkern.

Erst als die indianischen Büffeljäger um die Mitte des 18. Jahrhunderts in den Besitz von Pferden gelangten, die zuvor von Weißen in Nordamerika eingeführt worden waren, konnten sie ihr ex­pansives, kriegerisches Element voll zur Gel­tung bringen. Doch kaum 150 Jahre später wurde ihrer Kultur durch die Ausrottung des Bisons ein jähes Ende bereitet.

Das Bild vom berittenen, federngeschmückten und kriegsbemalten Prärie-Indianer war ein über­aus dankbares Sujet für Generationen von Hollywood-Regisseuren, denen großer ‚Ver­dienst‘ zu­kommt. Obwohl sie längst gestorben sind, le­ben ihre Bilder dennoch weiter; sie sind unausrottbar als Indianerklischees in unseren Köpfen verankert.

Und das ist bedauerlich, weil es der Auseinandersetzung mit der Realität, in der indianische Völker in Nordamerika heute leben müssen, schadet. Gerade heute, wo es ihn erstmals tat­sächlich gibt: ‚den‘ Indianer, diesen kulturell keines­wegs gleichen, aber sozial und wirtschaft­lich gleichgemach­ten amerikanischen Eingeborenen. Paradoxerweise will von ihm niemand etwas wissen. Von sei­ner durchschnittlichen Lebenserwartung von unter fünfzig Jahren ebenso wenig, wie von der er­schreckend hohen Selbstmordrate seiner Jugendlichen, die zehnmal so hoch ist, wie im übrigen Amerika ….

Reinhard Mandl


Reinhard Mandl lebt als freischaffender Produzent von Tonbildschauen in Wien. Seit 1983 hat er im­mer wieder Indianerreservate besucht und mehrere Diashows über die Situation nordamerikanischer Indianer produziert.