Dieser Artikel handelt von der Errichtung der Dakota Access Pipeline, erweitert um den analytischen Aspekt der Grenzland-Theorie. Dabei stellt sich die Frage, ob es innerhalb moderner Staaten überhaupt noch Grenzgebiete gibt. Grenzgebiete, in denen anderen Ethnien, Völkern oder Sprachen begegnet wird und die geographisch fernab vom Staatszentrum lokalisiert sind.
Randgebiete gibt es tatsächlich recht häufig in den USA vor allem durch die großen Unterschiede in der Bevölkerungsdichte. Es gibt viele Gegenden die spärlich besiedelt sind, weit entfernt vom starken Arm des Staates und eher durch lokale Bräuche und Regeln geprägt sind. Dennoch existiert hier keine klar ethnische Zuschreibung trotz der kulturellen und räumlichen Abgelegenheit.
Heute können die aktuell bestehenden Reservate, die nach der großen Siedlerbewegung im 18. Jahrhundert entstanden, als versteckte Grenzräume betrachtet werden. Hier gibt es eine klare Verbindung zwischen Ethnizität und Territorialität obschon aktuelle Reservatsgrenzen nicht immer mit den ursprünglichen Siedlungsräumen übereinstimmen. Vor allem im Osten wurden viele Völker gewaltsam zur Umsiedlung westlich des Mississippi gezwungen (siehe Trail of Tears), auf Land das von der Regierung damals eindeutig als weniger wertvoll geschätzt wurde. Genauso wurde mit indigenen Völkern verfahren, denen im Zuge von unfairen Landabkommen Areale abgenommen wurden, die als besonders wertvoll für die Siedler-Gesellschaft galten. Reservate erscheinen dadurch als Rückzugsort und Trostpreis gleichermaßen. Die Staatsmacht ist abwesend in diesem Grenzgebiet insofern als sie nur eingeschränkte gesetzliche Gewalt über Reservatsräume hat, dennoch ist der föderale Staat formell Eigentümer des Landes, das er zur freien Verfügung verwaltet. Die ungleiche Machtverteilung zeigt sich deutlich.
Grenzland-Theorie:
Die Grenzland-Theorie als Teilaspekt der Humangeographie konzentriert sich auf den Staat als aktiven Akteur, der Grenzräume kreiert und gestaltet nach seinem politischen, ökonomischen und moralischen Willen. „“…frontier making has in essence been the expansion of the nation-state or of fragments of its population into the domains of indigenous peoples” (Geiger 2008: 3). Ein Grenzraum meint nicht unbedingt die Ausbreitung des Staates in “neues“ Land, sondern bezieht sich auf Landstriche, die der Definition nach zum Staatsgebiet gehören, jedoch kaum verbunden sind mit dem administrativen Zentrum des Landes.
Meinem Verständnis nach sind indigene Reservationen in den USA derartige Grenzräume. Dennoch ist es ratsam hier noch genauer auf die Mechanismen, ökonomischen Logiken und Diskurse einzugehen, die mit einer solchen Grenzraum-Lage verbunden sind. Hier hilft das Konzept des Siedler-Kolonialismus (settler colonialism). Das Konzept verbindet die Aspekte der Landnahme im Zuge der kolonialistischen Ausbeutung Nordamerikas mit der Idee einer langfristigen Ansiedelung auf annektiertem Grund. Siedler-Kolonialismus wird daher heute als andauernder Prozess beschrieben, der Akkumulation von Kapital und Ressourcen, welcher zum Nachteil nicht-weißer Bevölkerung strukturiert ist (Launius/Boyce 2021:157). Systematisch wird dabei Land im Besitz oder bei Besiedelung von nicht-weißer Bevölkerung abgewertet, um eine Neubesiedelung durch die weiße Mehrheitsgesellschaft zu argumentieren. Die Struktur der Kolonialisierung lebt dadurch weiter und kontrolliert Territorien und Ressourcen zum Nachteil indigener Völker. Heutige Reservatsgebiete sind daher tatsächlich die Ergebnisse eines (fast) abgeschlossenen Prozesses der Beurteilung des Wertes von geographischen Räumen für den Staat.
Siedler-Kolonialismus:
Das Konzept des Siedler-Kolonialismus kombiniert die ethischen Aspekte der Annexion mit einem ökonomischen Hintergrund. Es bedeutet das Eindringen in indigene Territorien, nicht als einmalige Angelegenheit, sondern, getragen von ideologischen Motiven weißer Vorherrschaft, zur andauernden Ausbeutung von Grenzräumen.
Obschon Kolonialismus in vielen Ländern motiviert war von der Idee des schnellen Gewinns und der Ausbeutung von Ressourcen, fokussiert sich der Aspekt des Siedler-Kolonialismus auf die Kontrolle über das Land. Die koloniale Invasion präsentiert sich als Struktur, nicht als Ereignis. (Wolfe 2006: 388). Siedler kommen, um zu bleiben, meist getragen von rassistischen oder kapitalistischen Ideen, die die Aneignung von Land rechtfertigen. Heute findet man diese Ideologien oft bei liberalen oder autoritären Regierungen, die propagieren, dass „nicht-effektive“ Benutzung des Landes dem Kolonisator erlaubt das Land einer Nutzung im Dienste globaler Handelskreisläufe zuzuführen (Wolfe 2006: 389).
Das folgende Fallbeispiel soll zeigen, dass Grenzräume immer noch existieren, selbst als die Staatenbildung der USA abgeschlossen war. Kolonisation in seiner prozessualen, kapitalistischen Form ist dem Zwang zur Akkumulation unterworfen und muss daher immer mehr und mehr Land kontrollieren und seinen Gesetzen anpassen.
Siedler kommen, um zu bleiben, meist getragen von rassistischen oder kapitalistischen Ideen, die die Aneignung von Land rechtfertigen.
Der Ruf nach Entwicklung wird als Waffe verwendet gegen jede Form von indigener Landnutzung, die als rückständig und unproduktiv abgestempelt wird – eine Sünde gegen den Kapitalismus. Der Staat selbst, in Form seiner RepräsentantInnen, unterstützt diese Logik entweder offen oder lässt die Marktkräfte, nach liberalem Weltbild, frei walten.
Die North Dakota Access Pipeline
Das Projekt einer Öl-Pipeline von Nord-Dakota nach Illinois begann 2014 und wurde schon zwei Jahre später wieder gestoppt. 2017 wurde Trump Präsident der USA und bekundete offen seine Unterstützung für das Projekt. Die Proteste, die 2016 begannen, gingen von der Nation der Sioux aus, die die Behörde verklagten, welche die ursprüngliche Erlaubnis zum Bau der Pipeline erteilt hatte (U.S Army Corps of Engineers). Ihre Sorge war, dass die Wasserversorgung des Territoriums durch den Oahe-Teich nördlich davon gefährdet wäre. Außerdem kreuzt die Pipeline-Route heilige Stätten, die aktuell zwar außerhalb des Reservatsgeländes liegen (White/Millet 2019:119f) nicht jedoch gemäß dem Landabkommen von 1851.
Rein rechtlich, hatte das Volk der Sioux keine Möglichkeit gegen die Pipeline vorzugehen. Dennoch organisierten sie trotzdem Proteste. Im Endeffekt überarbeitete die bescheiderlassende Behörde ihre Entscheidung und eine alternative Route wurde gefunden.
Die Medienberichterstattung schaffte es nicht, rassistische und kapitalistische Diskurse zu vermeiden. Anfänglich wurde das Protestcamp von den großen Medienanstalten schlicht ignoriert. Ein typisches Problem nordamerikanischer Berichterstattung, in der nur negative Vorfälle mit Indigenen zuverlässig Aufmerksamkeit bringen. Es lohnt sich die hernach verhandelten medialen Diskurse näher zu betrachten.
Der hauptbetroffene Stamm Standing Rock hatte zu Beginn der Proteste den Slogan „Wasser ist Leben“ festgelegt. Das führte dazu, dass sich bald verschiedene Umweltorganisationen und SympathisantInnen den Protesten anschlossen. Für das Recht auf Wasser zu protestieren war sicher eine eingängige Forderung, brachte aber auch Nachteile mit sich, in der die Souveränität des Stammes rasch in den Hintergrund geriet.
“In an effort to combat global warming, environmental groups have used tribes and tribal issues to advance their agendas. […] When engaging in this type of collaboration, tribal issues are frequently pushed aside as secondary to environmental concerns. Environmental groups perpetuate exploitation of tribes when they engage them simply to further the environmental agenda without giving due attention to relevant tribal issues” (Mengden 2017: 455).
Speziell das Argument nationaler Souveränität wird entwertet, wenn ökologische Themen die Oberhand gewinnen. Indigene Völker werden dabei romantisiert und schlicht zu Wächtern der Natur stilisiert. Sie werden nicht mehr als moderne, unabhängige Nationen mit eigener Willensbildung wahrgenommen.
Zu Beginn des Protestcamps gab es nämlich tatsächlich ein Zusammenkommen prominenter Mitglieder von Standing Rock, die ein Protokoll verfassten, dass den Erfolg des Protestcamps sichern sollte. Je mehr Demonstranten sich dem Camp jedoch anschlossen, ohne Rücksicht auf die ausgegebenen Regeln, desto eher hatte die Presse die Möglichkeit die Camp-Bedingungen zu kritisieren und dies in das Stereotyp des ungewaschenen und rückständigen Indianers einzupassen (Moore 2019: 177, 91).
Es gab jedoch auch positive Effekte. Mitglieder von Standing Rock gaben später zu Protokoll, dass sich durch das Protestcamp ein unvorhergesehenes Zusammentreffen verschiedener Sioux-Stämme ergab und historische Momente geschaffen wurden. Auch völkerübergreifend wurden Allianzen geschaffen zwischen Nationen die vor 200 - 300 Jahren noch im erbitterten Krieg miteinander lagen. Die Idee von Reservaten, in denen Völker isoliert und geschwächt werden sollten, wurde durch diese Proteste kurzzeitig neutralisiert und neue Bündnisse wurden geschlossen (Moore 2019: 173).
Die nächstgelegene Kleinstadt Bismarck hielt von diesen Entwicklungen nicht viel. Viele BewohnerInnen waren aktive Profiteure der Pipeline. Ihnen war der Baustopp ein Dorn im Auge und zusammen mit der Betreiberfirma (Energy Transfer Partner) und der lokalen Presse wurde heftig gegen die Proteste angeschrieben.
Zuerst konzentrierte man sich auf die positiven Argumente und die kapitalistische Notwendigkeit einer weiteren Erschließung dieses „ungenutzten“ Landstrichs. Als Videos auftauchten von ProtestteilnehmerInnen, die von Wachhunden gebissen wurden, richtete sich die Berichterstattung jedoch massiv auf Gesetzesüberschreitungen von Seiten der Protestierenden, gemäß dem Klischee des aufsässigen Indianers. Zuvor hatte man tatsächlich medial noch weißen Landbesitzern Gehör verschafft, die sich unter Druck gesetzt fühlten, ihr Land für die Pipeline zu verkaufen. Für die indigenen Nachbarn galt diese Höflichkeit nicht mehr. Eine rassistische Berichterstattung versuchte den Protest zu delegitimieren, indem ihnen unterstellt wurde, sie wären unfähig „ordentlich“ für ihre Bedürfnisse einzustehen. Stattdessen wurde stark auf die ökonomischen Argumente fokussiert. Spirituelle Beziehungen zum Land wurden lächerlich gemacht, im Vergleich zur Möglichkeit einen monetären Marktwert zu schaffen.
Der Staat unterstützte diesen Diskurs als Trump 2017 das Projekt als national bedeutsam erkor und die Fertigstellung unterstützte (Proulx/Crane 2020:56). Im Mai 2021 wurde klar, dass auch die neue Regierung unter Biden kein Interesse daran hat, die Dakota Access Pipeline zu schließen - trotz anhaltender Proteste.
Die zwei konkurrierenden Diskurse drehten sich einerseits um den Schutz der Umwelt in Form einer Wasserquelle, andererseits die kapitalistische Logik des Wachstums mit einer stark rassistischen Note. Private und öffentliche Akteure stießen hier ins gleiche Horn des Lobpreises für ökonomische Entwicklung. Alle anderen Argumente wurden als rückständig und uneffektiv abgewertet, da sie in der Logik des Siedler-Kolonialismus von Akkumulation und Kontrolle keinen Platz haben.
Im Fall der US-amerikanischen Reservate sollen hier klare Charakteristika von Grenzräumen gezeigt worden sein. Die Diskurse rund um den Bau der Pipeline und die dazugehörigen Proteste offenbarten Rassismus, Kapitalismus und einen unterstützenden Staat. Das allgegenwärtige Thema wirtschaftlichen Wachstums auf Kosten der Natur und indigener Lebensräume wird klar widergespiegelt. Obwohl die Grenzziehungen für US-Reservate unbestritten sind, ist die rechtliche Umgebung unfair, in der die weiße Siedler-Gesellschaft mehr Möglichkeiten hat. Bereits jetzt leben zwei Drittel indigener US-Amerikaner in urbanen Räumen außerhalb der Reservate. Der stetige Angriff auf indigenes Land unter Inkaufnahme sich verschlechternder Lebensumstände zeigen, dass der Siedler-Kolonialismus immer noch aktiv wirkt.
Andrea Niehsner-Bruckner
Über die Autorin:
Mag. Andrea Niehsner-Bruckner, BEd.
Unterrichtet an einer Wiener Mittelschule Geographie und Wirtschaftskunde. Sie studiert an der Uni Wien im Master Geographie auf Lehramt und beschäftigte sich dabei mit moderner Grenztheorie im Rahmen eines humangeographischen Seminars. Grenztheorie wird in der Literatur meist auf Gebiete in Südamerika und Südostasien angewandt (Brasilien, Zomia,..) die tatsächlich als unerschlossen gelten. In diesem Artikel wird daher versucht die theoretischen Implikationen auf einen modernen Staat und auf die Situation einer vermeintlich abgeschlossenen Kolonialisierung anzuwenden.