März 22, 2011

Gibt es ein Völkerrecht?

Es ist schon etwas eigenartig, dass es zwar ein ‚Völkerrecht‘ gibt, aber kein ‚Recht für Völ­ker‘: das herrschende Völ­kerrecht, das besser mit der englischen Bezeichnung ‚Internatio­nal Law‘ (Interna­tionales Recht) beschrieben wäre, ist ein Recht der Nationalstaa­ten und deren dominierender (nicht unbedingt zahlenmäßig!) Bevölkerung.

Es sind nicht zuletzt die zunehmenden Aktivitäten indianischer Nationen bei der UNO in Genf wäh­rend der zweiten Hälfte der 70er Jahre gewesen, die zu einem Nachdenken über den Status von indigenen (eingeborenen) Völkern im in­ternationalen wie im innerstaatlichen Recht geführt haben und die vielleicht eines Tages zur Bildung eines Völkerrechts, das die­sen Namen auch wirklich verdient, beitragen könnten.

Die ‚Entdeckung‘ des amerikanischen Kontinents 1492 und die daran anschließende Kolo­nisie­rung war der Katalysa­tor für die Entstehung des ‚modernen‘ Völkerrechts, als deren Väter Fran­cisco de Vitoria (1480-1546) und Hugo Grotius (1583-1645) gelten. Denn immer­hin mussten ja die Beziehungen zwischen den Eroberern und den ‚heidnischen Wil­den‘ ge­regelt werden. Im Gegen­satz zu vielen Gelehrten seiner Zeit war Vitoria der Meinung, dass bestimmte Rechte allen Men­schen und Staaten zustehen, nicht nur den europäischen christlichen Staaten. In seinem Hauptwerk ‚De Indis Et De Jure Belli‘ und in seinen Vorle­sungen an der Universität von Sala­manca in Spanien ent­warf er Theorien über die Rechts­stellung der Indianer, die bis heute Grund­lage etwa der Rechtsprechung US-ameri­kanischer und kanadischer Gerichte in der Festlegung indianischer Rechte geblieben sind: die indige­nen Völker sind im rechtmäßigen Besitz ihres Lan­des und dürfen dieses Besitzes nicht be­raubt werden, außer wenn es dafür einen ‚gerechten Grund‘ gibt. Für Vitoria war der einzige ‚gerechte Grund‘, gegen die Indianer und deren Besitz gewaltsam vorzugehen, der der Selbstverteidi­gung der Spanier im Falle eines Angriffs der India­ner.

Nun, derartige Angriffe kann man natürlich auch inszenieren, ein ‚gerechter Grund‘ kann aber auch die zunehmende Zahl von Kolonisatoren und deren wachsender Bedarf an Land und Boden­schätzen sein, und letzteres ist bis heute die Rechtfertigung Kanadas und der USA: die Bildung und Dominanz dieser beiden Staaten ist ein Faktum und deren Souveräni­tät auch über die India­ner ein Sieg der Stärke. Auch den Indianern vertraglich garantierte Landtitel können jederzeit vom Souverän (die Bundesregierungen der USA bzw. Kanadas mit Zustimmung der Bundesparla­mente) auf­gelöst werden. Wo gibt es das sonst im Recht? Ein Vertrag darf einseitig von einer Vertragspartei, nämlich Kanada bzw. USA, gekündigt werden!

Ein weiterer Grundsatz Vitoria’s, der bis heute überlebte: die indianischen Völker sind zu kindlich, primitiv und naiv, um sich gegen die Kolonisatoren behaupten zu können. Also müssen sie vor Ausnutzung durch einzelne Kolonisato­ren beschützt werden. Bis heute gibt es daher ein Treuhän­der – Mündel Verhältnis zwischen der US- bzw. kanadi­schen Regierung und den indianischen Völ­kern in diesen Staaten. Letztere können daher viele Entscheidun­gen nur mit Zu­stimmung der Re­gierung treffen.

Trotz der negativen Erfahrungen, die die indigenen Völker mit innerstaatlichem und interna­tiona­lem Recht vielfach er­leiden mussten, machen sie sich Einrichtungen des internationalen Rechts zunutze, um Änderungen ihres rechtli­chen Status‘ herbeizuführen. Ein wichtiger Schritt war die NGO (Non-Governmental Organization – nicht-regierungs­gebun­dene Organi­sation) Konferenz über die Diskriminierung indigener Völker in Amerika im Herbst 1977 in Genf. Erstmals konnten Vertreter indianischer Nationen Nord- und Südamerikas durch ihre geballte Präsenz auf ihre Pro­bleme in größerem Rahmen aufmerksam machen und zwan­gen viele amerikanische Staaten zu öffentlichen Stel­lung­nahmen. Die wichtigste Forderung dieser Konferenz: Verträge mit indiani­schen Völkern müssen eingehalten wer­den und dürfen nicht einseitig gebrochen werden.

Eine weitere NGO-Konferenz in Genf, die sich 1981 speziell mit der Beziehung von indige­nen Völ­kern zum Land be­schäftigte, führte schließlich zur Einrichtung eines permanenten Forums inner­halb der UNO, das sich ausschließlich mit den Forderungen indigener Völker befasst: im Herbst 1981 beschloss eine Unterkommission der UN-Menschen­rechtskommis­sion, die ‚Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities‘ (Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutze von Minderhei­ten), die Bildung einer ‚Working Group on Indigenous Populations‘ (Arbeitsgruppe Indigene Völker – WGIP), die erstmals ein Jahr später erstmals in Genf tagte. Ihr Mandat besteht darin, Entwicklungen zu verfolgen, die zum Schutze und zur Förderung der Menschenrechte für indi­gene Völker bei­tragen, und der Herausbildung von Instrumenten die Rechte indigener Völker betreffend spezielles Au­genmerk zu wid­men.

Warum ist ein solches Forum überhaupt notwendig?

Zum einen ist es indigenen Völkern bislang nicht möglich gewesen, in einem UN-Gremium auf ihre Lage aufmerk­sam zu machen, denn die Strukturen der UNO sind ausschließlich von Nationalstaa­ten und für Nationalstaaten geschaffen worden. Will ein Vertreter eines indige­nen Volkes etwa ein Anliegen seines Volkes einem UN-Gremium vorbringen, ist dies nur über die Regierungsvertreter ”seines” Staates möglich – keine sehr günstige Ausgangsposi­tion. Die UN-Arbeitsgruppe bat nun erstmals die Möglichkeit eines sehr liberal geregelten Zugangs zu ei­nem Un­terorgan der UNO. Wenngleich auch die Arbeitsgruppe kein Gericht ist, auch nicht die Möglichkeit hat, einen Staat wegen seiner Praktiken gegenüber seiner indigenen Bevölkerung zu verurteilen, geschweige denn zu bestrafen, so haben die An­schuldigungen von Vertretern indigener Völker doch einen gewissen publizistischen Effekt und die ebenfalls z.T. anwesenden Vertreter der so beschuldigten Staaten werden dadurch gezwungen, sich zu rechtfertigen.
Zweitens, und das ist die letztlich entscheidende Aufgabe der Arbeitsgruppe, sollen die be­stehen­den Menschenrechts­deklarationen um eine weitere bereichert werden: eine Deklara­tion zum Schutze der Rechte von indigenen Völkern sollte primär von den Betroffenen selbst in dieser Ar­beitsgruppe ausgearbeitet werden. Ein Deklarationsentwurf wurde schließlich 1993 – im von der UNO ausgerufenem Jahr der Indigenen Völker – der UN-Menschen­rechtskommission vorgelegt, die 1995 den Resolutionsentwurf mehrheitlich ablehnte: Grund dafür war vermutlich die Tatsache, dass im Gegensatz zur WGIP in der Menschenrechts­kommission ausschließlich Staatenvertreter das Sagen haben. Denn fast alle Nationalstaa­ten fürchten durch die völkerrechtliche Anerkennung der Rechte von Völkern eine Aushöh­lung ihrer Souveränität als Nationalstaaten. Es gelang der WGIP beispielsweise nicht ein­mal, den Begriff ”Working Group on Indigenous Populations” durch ”Peoples” durchzuset­zen.
Inzwischen wurde die ”Intersessional Working Group on the Draft Declaration” (Arbeitsgruppe für den Deklarationsentwurf) eingerichtet, die terminlich nicht gebunden ist und – direkt der UN-Men­schenrechtskommission unterstellt – auch nicht für NGOs bzw. indi­gene Vertreter zugänglich ist. Die weiter stattfindenden jährlichen Sitzungen der WGIP sind deswegen aber nicht überflüssig geworden, sondern dienen weiter als wichtigstes Forum für Vertreter indigener Völker und NGOs innerhalb der UNO. Bis zu einer mehrheitsfähigen Fassung, bis zur Verabschiedung durch die UNO Vollversammlung und bis zu einer Ratifi­zie­rung einer Deklaration über die Rechte indigener Völker durch die Mitgliedstaaten ist es allerdings noch ein weiter und beschwerlicher Weg.

Nun mag man sich fragen: warum reichen denn z.B. die ‚Allgemeine Erklärung der Men­schen­rechte‘, die UN Charta, die beiden Menschenrechtskonventionen nicht aus, um indi­gene Völker zu schützen? Natürlich können viele Artikel der genannten Konventionen und Deklarationen auch bei indigenen Völkern Anwendung finden, aber es fällt sofort auf, dass meist von Einzelrechten die Rede ist: ‚Jeder hat das Recht auf …‘ Nur selten wird auf das Recht eines gan­zen Volkes Bezug genommen, so etwa in Artikel 1 der Konvention über Bürger- und politische Rechte: ‚Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung.‘ (Hervorhebung RT). Doch was hat ein solches Recht für einen Wert z.B. für die kanadischen Indianer, wenn die kanadische Regierung vor der Arbeits­gruppe für indigene Völker 1987 erklärte, ‚… (dass) angemerkt werden sollte, dass Bezugnahmen auf Kanadas indigene ‚Völker‘ (…) nicht so interpretiert wer­den sollte, dass Kanadas indigene Gruppen ‚Völker‘ in dem Sinne seien, die das Recht auf Selbstbestimmung im Völ­kerrecht hät­ten‘?

Nicht nur die kanadische Regierung, praktisch alle Staaten, in deren Grenzen indigene Völ­ker le­ben, sind der Mei­nung, dass diese Völker keine ‚Völker‘ im Sinne des Völkerrechts sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es sich die Ar­beitsgruppe für indigene Völker zuallererst zur Auf­gabe machte, existierende Definitionen zu den Begriffen ‚Volk‘, ‚Minderheit‘, ‚Selbstbestimmung‘, ‚indigen‘ und ‚Nation‘ zusammenzutragen, bzw., wo nicht vorhanden, Arbeitsde­finitionen selbst zu erarbeiten.

Eine ‚Nation‘ im Sinne des herrschenden Völkerrechts liegt dann vor, wenn folgende Be­dingun­gen erfüllt sind:

  • eine dauernde Bevölkerung (Staatsvolk)
  • ein definiertes Territorium (Staatsgebiet)
  • eine Regierung
  • die Befähigung, in Beziehung mit anderen Staaten einzutreten

Zweifelsohne können viele indianische Nationen diese Bedingungen erfüllen. Am Beispiel der La­kota: sie haben eine dauernde Bevölkerung, ein definiertes Territorium (definiert im Vertrag von 1868), eine Regierung (heute sowohl die von den USA anerkannten offiziellen Stammesregierun­gen als auch die traditionellen Regierungen) und sie treten auch in Bezie­hungen mit anderen Staaten ein: wiederholt schloss die ‚Sioux Nation‘ mit den USA Verträge und welch bes­seres Bei­spiel für diplomatische Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten könnte es geben als inter­nationale Verträge?
Mehrere Definitionen zum Begriff ‚Volk‘ existieren im Völkerrecht. Ihnen gemeinsam sind fol­gende Bestimmungs­stücke:

  • eine gemeinsame Geschichte
  • rassische oder ethnische Verbindung
  • kulturelle oder sprachliche Verbindung
  • religiöse oder weltanschauliche Verbindung
  • ein gemeinsames Siedlungsgebiet
  • eine gemeinsame wirtschaftliche Grundlage
  • eine ausreichend große Bevölkerung

Diese sieben bestimmenden Elemente eines Volkes sind wohl bei fast allen indianischen Völkern zu finden – dennoch verweigert z.B. Kanada ebendiesen Völkern den Status eines Volkes und das damit verbundene Recht auf Selbstbe­stimmung.

Das Recht auf Selbstbestimmung unterscheidet ein Volk von einer Minderheit. Daher legen indi­gene Völker auch so einen großen Wert auf eine Trennung dieser beiden Begriffe. Dieser Unter­scheidung wird inzwischen auch von der UNO Rechnung getragen, es gibt ein eigenes UN-Gre­mium, das sich mit den Rechten von Minderheiten beschäf­tigt und – wenn auch mehr von symboli­schem Wert – seit 1994 die ”Dekade für Indigene Völker”. Doch nicht alle Staa­ten, u.a. auch Österreich, sehen die Notwendigkeit einer Unterscheidung. Zum Unterschied einer Minderheit (mehr und mehr setzt sich inzwischen der Begriff ‚Volksgruppe‘ anstelle von ‚Minderheit‘ durch), so die Vertreter indigener Völker, wurden die indigenen Völker ko­lonisiert, kamen aber niemals in den Genus der De-Kolonisierung, sondern wurden vielmehr Assimilierungsversuchen unterworfen. Diese Meinung schlägt sich auch in der Definition der Arbeitsgruppe für indigene Völker nieder: als ‚indigen‘ wird de­finiert: jede Gruppe, die hi­storische Kontinuität mit jener Gesellschaft aufweist, die vor einer Invasion und Kolonisation existierte und sich selbst als an­dersartig im Vergleich zu der heute in jenem Gebiet dominie­renden Gesellschaft be­zeichnet.

Die Schaffung von kollektiven Menschenrechten bzw. Gruppenrechten ist also, wie schon er­wähnt, deshalb nötig, weil sie bisher zuwenig berücksichtigt wurden. Das Recht auf freie Reli­gionsausübung wird jedem US-Bürger zuer­kannt. Als die Lakota und Cheyenne den Staat Süd Da­kota klagten, weil dieser aus ihrem heiligen Berg, dem Bear Butte, einen Natur­park machte und dem Tourismus erschloss, wodurch sich die Indianer bei der Durchführung religiö­ser Zere­monien zu Recht gestört fühlten, entschieden die Gerichte, dass der Tourismus für die Wirtschaft Süd Dako­tas wichtiger sei als das Recht auf freie Religionsausübung.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass auch ein individuelles Menschenrecht wie das Recht auf freie Religionsausübung (durch die US-Verfassung garantiert, aber auch in den UN-Men­schenrechts­erklärungen und -konventionen festge­schrieben) zur Zeit nicht immer geschützt werden kann. In­ternationale Konventionen und Erklärungen können jederzeit ge­brochen werden, weil deren Ver­letzung nicht wirksam sanktioniert werden kann, sie nicht effektiv durchgesetzt wer­den können. Oft unterschrieben, aber nicht ratifiziert (die beiden Men­schenrechtskonventionen wurden von den USA 1976 zwar unterzeichnet, aber nicht ratifi­ziert), werden derartige Dokumente von vielen Staaten lediglich als Ab­sichtser­klärungen, jedoch nicht als rechtlich bindend angesehen. Die USA haben in einem Gesetz festgestellt (‚Connally Amendment‘), dass internationale Abkommen nur dann gelten sollen, wenn sie nicht ‚interne Angelegen­heiten‘ der USA betreffen. Es wird also nicht nur notwendig sein, spezielle Gruppenrechte und Rechte für indigene Völker im Völkerrecht zu etablieren, son­dern diesen dann auch zur Durchsetzung zu verhelfen. Letzteres ist aller­dings ein allge­mei­ner Schwach­punkt des internationalen Rechtssystems.

Keineswegs hat die Arbeit der ”Working Group on Indigenous Populations” bisher zu einer allge­meinen Verbesserung der Rechte oder Lebensumstände der indigenen Völker beige­tragen, aller­dings eine weitere Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit bewirkt. Nicht uner­wähnt sollte auch blei­ben, dass es bereits ein rechtlich verbindliches Instrument zur Durch­setzung einiger grundsätzli­chen Rechte indigener Völker gibt: die Konvention 169 der Inter­nationalen Arbeitsorganisation. Die ILO Konvention 169 ist allerdings nicht sehr umfassend und politisch entschärft (z.B. keine völker­rechtliche Anerkennung ”indigener Völker” mit dar­aus resultierendem Selbstbestimmungsan­spruch). Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat inzwischen einen Entwurf für eine ”American Declaration on the Rights of Indigenous Peoples” erarbeitet, der gegenwärtig von den Staatenvertretern begutachtet wird.
Wie viele Menschen es heute weltweit gibt, die einem indigenen Volk zugerechnet werden können, ist nicht einmal an­nähernd festzustellen. Die Schätzungen reichen von 100 Millio­nen bis 500 Mil­lionen Menschen. Doch die genaue Zahl ist gleichgültig. Es gilt vielmehr zu erkennen, dass die Ur­bevölkerung aller Kontinente Rechte – natürlich ge­wachsene Rechte – genießt, die von den soge­nannten ‚zivilisierten‘ Menschen, die im Namen des Christentums und des Fort­schritts die ‚entdeckten‘ Völker unterdrückten und z.T. vernichteten, nicht län­ger geleugnet werden können. Und es gilt zu erkennen, dass das Völkerrecht zuallererst für jene da sein sollte, deren Interessen zu vertreten es vor­gibt: für die Völker.

Solange eine Gruppe, ein Volk keine Rechte hat, die der Gruppe, dem Volk per se zustehen, son­dern, wie heute, nur durch und mit Hilfe eines Staates am Völkerrecht partizipiert, wird es zwar Menschenrechte geben, aber kein Völker­recht, kein Recht für Völker. Wenn ein Volk rechtlich geschützt werden soll, wird es wohl nicht genügen, Gesetze und Konventionen ge­gen Rassendis­kriminierung zu erlassen. Denn die daraus resultierende Gleichbehandlung besie­gelt letztlich das Schicksal ebendieses Volkes, das es zu schützen galt.

Reinhard Trink