Es ist schon etwas eigenartig, dass es zwar ein ‚Völkerrecht‘ gibt, aber kein ‚Recht für Völker‘: das herrschende Völkerrecht, das besser mit der englischen Bezeichnung ‚International Law‘ (Internationales Recht) beschrieben wäre, ist ein Recht der Nationalstaaten und deren dominierender (nicht unbedingt zahlenmäßig!) Bevölkerung.
Es sind nicht zuletzt die zunehmenden Aktivitäten indianischer Nationen bei der UNO in Genf während der zweiten Hälfte der 70er Jahre gewesen, die zu einem Nachdenken über den Status von indigenen (eingeborenen) Völkern im internationalen wie im innerstaatlichen Recht geführt haben und die vielleicht eines Tages zur Bildung eines Völkerrechts, das diesen Namen auch wirklich verdient, beitragen könnten.
Die ‚Entdeckung‘ des amerikanischen Kontinents 1492 und die daran anschließende Kolonisierung war der Katalysator für die Entstehung des ‚modernen‘ Völkerrechts, als deren Väter Francisco de Vitoria (1480-1546) und Hugo Grotius (1583-1645) gelten. Denn immerhin mussten ja die Beziehungen zwischen den Eroberern und den ‚heidnischen Wilden‘ geregelt werden. Im Gegensatz zu vielen Gelehrten seiner Zeit war Vitoria der Meinung, dass bestimmte Rechte allen Menschen und Staaten zustehen, nicht nur den europäischen christlichen Staaten. In seinem Hauptwerk ‚De Indis Et De Jure Belli‘ und in seinen Vorlesungen an der Universität von Salamanca in Spanien entwarf er Theorien über die Rechtsstellung der Indianer, die bis heute Grundlage etwa der Rechtsprechung US-amerikanischer und kanadischer Gerichte in der Festlegung indianischer Rechte geblieben sind: die indigenen Völker sind im rechtmäßigen Besitz ihres Landes und dürfen dieses Besitzes nicht beraubt werden, außer wenn es dafür einen ‚gerechten Grund‘ gibt. Für Vitoria war der einzige ‚gerechte Grund‘, gegen die Indianer und deren Besitz gewaltsam vorzugehen, der der Selbstverteidigung der Spanier im Falle eines Angriffs der Indianer.
Nun, derartige Angriffe kann man natürlich auch inszenieren, ein ‚gerechter Grund‘ kann aber auch die zunehmende Zahl von Kolonisatoren und deren wachsender Bedarf an Land und Bodenschätzen sein, und letzteres ist bis heute die Rechtfertigung Kanadas und der USA: die Bildung und Dominanz dieser beiden Staaten ist ein Faktum und deren Souveränität auch über die Indianer ein Sieg der Stärke. Auch den Indianern vertraglich garantierte Landtitel können jederzeit vom Souverän (die Bundesregierungen der USA bzw. Kanadas mit Zustimmung der Bundesparlamente) aufgelöst werden. Wo gibt es das sonst im Recht? Ein Vertrag darf einseitig von einer Vertragspartei, nämlich Kanada bzw. USA, gekündigt werden!
Ein weiterer Grundsatz Vitoria’s, der bis heute überlebte: die indianischen Völker sind zu kindlich, primitiv und naiv, um sich gegen die Kolonisatoren behaupten zu können. Also müssen sie vor Ausnutzung durch einzelne Kolonisatoren beschützt werden. Bis heute gibt es daher ein Treuhänder – Mündel Verhältnis zwischen der US- bzw. kanadischen Regierung und den indianischen Völkern in diesen Staaten. Letztere können daher viele Entscheidungen nur mit Zustimmung der Regierung treffen.
Trotz der negativen Erfahrungen, die die indigenen Völker mit innerstaatlichem und internationalem Recht vielfach erleiden mussten, machen sie sich Einrichtungen des internationalen Rechts zunutze, um Änderungen ihres rechtlichen Status‘ herbeizuführen. Ein wichtiger Schritt war die NGO (Non-Governmental Organization – nicht-regierungsgebundene Organisation) Konferenz über die Diskriminierung indigener Völker in Amerika im Herbst 1977 in Genf. Erstmals konnten Vertreter indianischer Nationen Nord- und Südamerikas durch ihre geballte Präsenz auf ihre Probleme in größerem Rahmen aufmerksam machen und zwangen viele amerikanische Staaten zu öffentlichen Stellungnahmen. Die wichtigste Forderung dieser Konferenz: Verträge mit indianischen Völkern müssen eingehalten werden und dürfen nicht einseitig gebrochen werden.
Eine weitere NGO-Konferenz in Genf, die sich 1981 speziell mit der Beziehung von indigenen Völkern zum Land beschäftigte, führte schließlich zur Einrichtung eines permanenten Forums innerhalb der UNO, das sich ausschließlich mit den Forderungen indigener Völker befasst: im Herbst 1981 beschloss eine Unterkommission der UN-Menschenrechtskommission, die ‚Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities‘ (Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutze von Minderheiten), die Bildung einer ‚Working Group on Indigenous Populations‘ (Arbeitsgruppe Indigene Völker – WGIP), die erstmals ein Jahr später erstmals in Genf tagte. Ihr Mandat besteht darin, Entwicklungen zu verfolgen, die zum Schutze und zur Förderung der Menschenrechte für indigene Völker beitragen, und der Herausbildung von Instrumenten die Rechte indigener Völker betreffend spezielles Augenmerk zu widmen.
Warum ist ein solches Forum überhaupt notwendig?
Zum einen ist es indigenen Völkern bislang nicht möglich gewesen, in einem UN-Gremium auf ihre Lage aufmerksam zu machen, denn die Strukturen der UNO sind ausschließlich von Nationalstaaten und für Nationalstaaten geschaffen worden. Will ein Vertreter eines indigenen Volkes etwa ein Anliegen seines Volkes einem UN-Gremium vorbringen, ist dies nur über die Regierungsvertreter ”seines” Staates möglich – keine sehr günstige Ausgangsposition. Die UN-Arbeitsgruppe bat nun erstmals die Möglichkeit eines sehr liberal geregelten Zugangs zu einem Unterorgan der UNO. Wenngleich auch die Arbeitsgruppe kein Gericht ist, auch nicht die Möglichkeit hat, einen Staat wegen seiner Praktiken gegenüber seiner indigenen Bevölkerung zu verurteilen, geschweige denn zu bestrafen, so haben die Anschuldigungen von Vertretern indigener Völker doch einen gewissen publizistischen Effekt und die ebenfalls z.T. anwesenden Vertreter der so beschuldigten Staaten werden dadurch gezwungen, sich zu rechtfertigen.
Zweitens, und das ist die letztlich entscheidende Aufgabe der Arbeitsgruppe, sollen die bestehenden Menschenrechtsdeklarationen um eine weitere bereichert werden: eine Deklaration zum Schutze der Rechte von indigenen Völkern sollte primär von den Betroffenen selbst in dieser Arbeitsgruppe ausgearbeitet werden. Ein Deklarationsentwurf wurde schließlich 1993 – im von der UNO ausgerufenem Jahr der Indigenen Völker – der UN-Menschenrechtskommission vorgelegt, die 1995 den Resolutionsentwurf mehrheitlich ablehnte: Grund dafür war vermutlich die Tatsache, dass im Gegensatz zur WGIP in der Menschenrechtskommission ausschließlich Staatenvertreter das Sagen haben. Denn fast alle Nationalstaaten fürchten durch die völkerrechtliche Anerkennung der Rechte von Völkern eine Aushöhlung ihrer Souveränität als Nationalstaaten. Es gelang der WGIP beispielsweise nicht einmal, den Begriff ”Working Group on Indigenous Populations” durch ”Peoples” durchzusetzen.
Inzwischen wurde die ”Intersessional Working Group on the Draft Declaration” (Arbeitsgruppe für den Deklarationsentwurf) eingerichtet, die terminlich nicht gebunden ist und – direkt der UN-Menschenrechtskommission unterstellt – auch nicht für NGOs bzw. indigene Vertreter zugänglich ist. Die weiter stattfindenden jährlichen Sitzungen der WGIP sind deswegen aber nicht überflüssig geworden, sondern dienen weiter als wichtigstes Forum für Vertreter indigener Völker und NGOs innerhalb der UNO. Bis zu einer mehrheitsfähigen Fassung, bis zur Verabschiedung durch die UNO Vollversammlung und bis zu einer Ratifizierung einer Deklaration über die Rechte indigener Völker durch die Mitgliedstaaten ist es allerdings noch ein weiter und beschwerlicher Weg.
Nun mag man sich fragen: warum reichen denn z.B. die ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘, die UN Charta, die beiden Menschenrechtskonventionen nicht aus, um indigene Völker zu schützen? Natürlich können viele Artikel der genannten Konventionen und Deklarationen auch bei indigenen Völkern Anwendung finden, aber es fällt sofort auf, dass meist von Einzelrechten die Rede ist: ‚Jeder hat das Recht auf …‘ Nur selten wird auf das Recht eines ganzen Volkes Bezug genommen, so etwa in Artikel 1 der Konvention über Bürger- und politische Rechte: ‚Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung.‘ (Hervorhebung RT). Doch was hat ein solches Recht für einen Wert z.B. für die kanadischen Indianer, wenn die kanadische Regierung vor der Arbeitsgruppe für indigene Völker 1987 erklärte, ‚… (dass) angemerkt werden sollte, dass Bezugnahmen auf Kanadas indigene ‚Völker‘ (…) nicht so interpretiert werden sollte, dass Kanadas indigene Gruppen ‚Völker‘ in dem Sinne seien, die das Recht auf Selbstbestimmung im Völkerrecht hätten‘?
Nicht nur die kanadische Regierung, praktisch alle Staaten, in deren Grenzen indigene Völker leben, sind der Meinung, dass diese Völker keine ‚Völker‘ im Sinne des Völkerrechts sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es sich die Arbeitsgruppe für indigene Völker zuallererst zur Aufgabe machte, existierende Definitionen zu den Begriffen ‚Volk‘, ‚Minderheit‘, ‚Selbstbestimmung‘, ‚indigen‘ und ‚Nation‘ zusammenzutragen, bzw., wo nicht vorhanden, Arbeitsdefinitionen selbst zu erarbeiten.
Eine ‚Nation‘ im Sinne des herrschenden Völkerrechts liegt dann vor, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
- eine dauernde Bevölkerung (Staatsvolk)
- ein definiertes Territorium (Staatsgebiet)
- eine Regierung
- die Befähigung, in Beziehung mit anderen Staaten einzutreten
Zweifelsohne können viele indianische Nationen diese Bedingungen erfüllen. Am Beispiel der Lakota: sie haben eine dauernde Bevölkerung, ein definiertes Territorium (definiert im Vertrag von 1868), eine Regierung (heute sowohl die von den USA anerkannten offiziellen Stammesregierungen als auch die traditionellen Regierungen) und sie treten auch in Beziehungen mit anderen Staaten ein: wiederholt schloss die ‚Sioux Nation‘ mit den USA Verträge und welch besseres Beispiel für diplomatische Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten könnte es geben als internationale Verträge?
Mehrere Definitionen zum Begriff ‚Volk‘ existieren im Völkerrecht. Ihnen gemeinsam sind folgende Bestimmungsstücke:
- eine gemeinsame Geschichte
- rassische oder ethnische Verbindung
- kulturelle oder sprachliche Verbindung
- religiöse oder weltanschauliche Verbindung
- ein gemeinsames Siedlungsgebiet
- eine gemeinsame wirtschaftliche Grundlage
- eine ausreichend große Bevölkerung
Diese sieben bestimmenden Elemente eines Volkes sind wohl bei fast allen indianischen Völkern zu finden – dennoch verweigert z.B. Kanada ebendiesen Völkern den Status eines Volkes und das damit verbundene Recht auf Selbstbestimmung.
Das Recht auf Selbstbestimmung unterscheidet ein Volk von einer Minderheit. Daher legen indigene Völker auch so einen großen Wert auf eine Trennung dieser beiden Begriffe. Dieser Unterscheidung wird inzwischen auch von der UNO Rechnung getragen, es gibt ein eigenes UN-Gremium, das sich mit den Rechten von Minderheiten beschäftigt und – wenn auch mehr von symbolischem Wert – seit 1994 die ”Dekade für Indigene Völker”. Doch nicht alle Staaten, u.a. auch Österreich, sehen die Notwendigkeit einer Unterscheidung. Zum Unterschied einer Minderheit (mehr und mehr setzt sich inzwischen der Begriff ‚Volksgruppe‘ anstelle von ‚Minderheit‘ durch), so die Vertreter indigener Völker, wurden die indigenen Völker kolonisiert, kamen aber niemals in den Genus der De-Kolonisierung, sondern wurden vielmehr Assimilierungsversuchen unterworfen. Diese Meinung schlägt sich auch in der Definition der Arbeitsgruppe für indigene Völker nieder: als ‚indigen‘ wird definiert: jede Gruppe, die historische Kontinuität mit jener Gesellschaft aufweist, die vor einer Invasion und Kolonisation existierte und sich selbst als andersartig im Vergleich zu der heute in jenem Gebiet dominierenden Gesellschaft bezeichnet.
Die Schaffung von kollektiven Menschenrechten bzw. Gruppenrechten ist also, wie schon erwähnt, deshalb nötig, weil sie bisher zuwenig berücksichtigt wurden. Das Recht auf freie Religionsausübung wird jedem US-Bürger zuerkannt. Als die Lakota und Cheyenne den Staat Süd Dakota klagten, weil dieser aus ihrem heiligen Berg, dem Bear Butte, einen Naturpark machte und dem Tourismus erschloss, wodurch sich die Indianer bei der Durchführung religiöser Zeremonien zu Recht gestört fühlten, entschieden die Gerichte, dass der Tourismus für die Wirtschaft Süd Dakotas wichtiger sei als das Recht auf freie Religionsausübung.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass auch ein individuelles Menschenrecht wie das Recht auf freie Religionsausübung (durch die US-Verfassung garantiert, aber auch in den UN-Menschenrechtserklärungen und -konventionen festgeschrieben) zur Zeit nicht immer geschützt werden kann. Internationale Konventionen und Erklärungen können jederzeit gebrochen werden, weil deren Verletzung nicht wirksam sanktioniert werden kann, sie nicht effektiv durchgesetzt werden können. Oft unterschrieben, aber nicht ratifiziert (die beiden Menschenrechtskonventionen wurden von den USA 1976 zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert), werden derartige Dokumente von vielen Staaten lediglich als Absichtserklärungen, jedoch nicht als rechtlich bindend angesehen. Die USA haben in einem Gesetz festgestellt (‚Connally Amendment‘), dass internationale Abkommen nur dann gelten sollen, wenn sie nicht ‚interne Angelegenheiten‘ der USA betreffen. Es wird also nicht nur notwendig sein, spezielle Gruppenrechte und Rechte für indigene Völker im Völkerrecht zu etablieren, sondern diesen dann auch zur Durchsetzung zu verhelfen. Letzteres ist allerdings ein allgemeiner Schwachpunkt des internationalen Rechtssystems.
Keineswegs hat die Arbeit der ”Working Group on Indigenous Populations” bisher zu einer allgemeinen Verbesserung der Rechte oder Lebensumstände der indigenen Völker beigetragen, allerdings eine weitere Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit bewirkt. Nicht unerwähnt sollte auch bleiben, dass es bereits ein rechtlich verbindliches Instrument zur Durchsetzung einiger grundsätzlichen Rechte indigener Völker gibt: die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation. Die ILO Konvention 169 ist allerdings nicht sehr umfassend und politisch entschärft (z.B. keine völkerrechtliche Anerkennung ”indigener Völker” mit daraus resultierendem Selbstbestimmungsanspruch). Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat inzwischen einen Entwurf für eine ”American Declaration on the Rights of Indigenous Peoples” erarbeitet, der gegenwärtig von den Staatenvertretern begutachtet wird.
Wie viele Menschen es heute weltweit gibt, die einem indigenen Volk zugerechnet werden können, ist nicht einmal annähernd festzustellen. Die Schätzungen reichen von 100 Millionen bis 500 Millionen Menschen. Doch die genaue Zahl ist gleichgültig. Es gilt vielmehr zu erkennen, dass die Urbevölkerung aller Kontinente Rechte – natürlich gewachsene Rechte – genießt, die von den sogenannten ‚zivilisierten‘ Menschen, die im Namen des Christentums und des Fortschritts die ‚entdeckten‘ Völker unterdrückten und z.T. vernichteten, nicht länger geleugnet werden können. Und es gilt zu erkennen, dass das Völkerrecht zuallererst für jene da sein sollte, deren Interessen zu vertreten es vorgibt: für die Völker.
Solange eine Gruppe, ein Volk keine Rechte hat, die der Gruppe, dem Volk per se zustehen, sondern, wie heute, nur durch und mit Hilfe eines Staates am Völkerrecht partizipiert, wird es zwar Menschenrechte geben, aber kein Völkerrecht, kein Recht für Völker. Wenn ein Volk rechtlich geschützt werden soll, wird es wohl nicht genügen, Gesetze und Konventionen gegen Rassendiskriminierung zu erlassen. Denn die daraus resultierende Gleichbehandlung besiegelt letztlich das Schicksal ebendieses Volkes, das es zu schützen galt.
Reinhard Trink