Januar 24, 2022

Kanadas Widerstand gegen Gerechtigkeit

Wie die Indigenen Völker Kanadas sich behaupten

Warum verweigert gerade Kanada – das international als selbsternannter Menschenrechtsapostel auftritt – den Indigenen Völkern auf seinem Land trotz eigenen Gerichtsurteilen und völkerrechtlichen Instrumenten ihre angestammten Rechte?

Die Gruppe «Indigenous Youth for Wet‘suwet‘en» stürmte im März 2020 mit hunderten von Unterstützer*innen die Stufen zum Parlament von B.C. © Mike Graeme

Als weltweit zweitgrösstes Land ist Kanada (1) für viele Menschen noch immer eine Destination der Träume; es lockt uns mit grandioser Natur, unendlichen Weiten und Wäldern, in denen Bären und Wölfe in freier Wildbahn leben. Die Eroberung und Besiedlung des Landes erfolgte zumeist an den Küsten der Seen und der beiden Weltmeere, sowie am Fuß der mächtigen Gebirge wie die Rocky Mountains und in einem 350 km langen Streifen entlang der Grenze zu den USA. Und dann sind da noch die Ureinwohner*innen des Landes, die First Nations, Métis und Inuit, welche ihre angestammten Gebiete bis heute verteidigen müssen – von British Columbia am Pazifik, dem autonomen Nunavut am Arktischen Ozean bis Labrador am Atlantik, zumeist in entlegenen, ressourcenreichen nörd- lichen Gebieten. Außer wenn sie publikumswirksam in voller Regalia an Powwows etc. auftreten, werden sie von der breiten kanadischen Öffentlichkeit v.a. als Sozialbezüger*innen wahrgenommen, die zum Großteil als «schmarotzende» Süchtige in den Armenvierteln der Städte oder in miserabel ausgestatteten Reservaten ums Überleben kämpfen. Dass sie 98% ihres Landes verloren haben, mit allen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen, wird ignoriert.

Kanadas Verschleuderung der immensen Ressourcen

Was ist schiefgelaufen, im Verhältnis der knapp 36,3 Millionen Kanadier*innen, die erst mit dem Canada Act 1982 ihre volle Souveränität erhalten haben, und den ca. 1,7 Millionen Indigenen, die in einem der reichsten Länder unter Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung leiden? Der primäre Grund ist die höchst primitive Wirtschaftsform, die auf einem regelrechten Ausverkauf der Ressourcen basiert: Holz oder Erdöl haben keine hohe Wertschöpfung im eigenen Land und sind auf den Export ausgerichtet. Kanada kann sich diese Verschleuderung leisten, weil die Ressourcen in so großem Maß vorkommen – zumeist aber auf indigenem Land.

Kanadas Rohstoffindustrie schneidet sich ins eigene Fleisch, in der Meinung, indigene Rechte müssen nicht respektiert werden oder Nachhaltigkeit sei angesichts der Fülle von fossilen Brennstoffen oder Mineralien vernachlässigbar; sie glauben, es lohne sich nicht, z.B. in eine arbeitsplatzintensive, diversifizierte Bau-und Möbelindustrie mit Holz zu investieren – das schnelle Geld hat Priorität; Menschenrechtsverletzungen und bleibende Umweltschäden wie durch den Abbau von Teersanden im Tage- bau, Insitu Laugung oder Fracking von Erdgas und Erdöl werden in Kauf genommen. Und noch ein Punkt: Gerade in British Columbia, das sich auf die noch geltende Königliche Proklamation von 1763 des britischen Königs Georg beruft und keine Verträge abgeschlossen hat, gehört das Land den Indigenen; doch sind Lokalpolitiker oft mit den Raubbau betreibenden Unternehmen verhängt und wehren sich aus rein privatem Profitinteresse gegen Einbezug und Beteiligung der rechtmäßigen indigenen Landbesitzer. Vor 20 Jahren versuchten sie in langwierigen Prozessen mit einzelnen Stämmen zu schlechten Bedingungen «neue Verträge» auszuhandeln, um an ressourcenreiches Land zu kommen. Nach wenigen miserablen Abschlüssen, die keinen Gegenwert zum Landverlust brachten, gab die Regierung diese Taktik auf, auch weil die meisten First Nations kein Interesse an «gefakten» Verhandlungen zeigten, wobei sie immer betont haben, dass sie nicht a priori gegen Fortschritt seien, sondern selbst bestimmen wollten, wie ihre eigenen Ressourcen genutzt werden.

Neue Regierungstaktik: Kriminalisierung der indigenen Aktivist*innen

Erst unter dem jahrzehntelangen Druck von indigenen (und nicht-indigenen) Umweltschützer*innen ändert sich langsam etwas, aber seitens der Betroffenen «von unten», angetrieben, nicht durch Gesetzesänderungen. Denn leider wurde die Verlogenheit der kanadischen Regierung offenkundig: Mit dem Amtsantritt des jungen Justin Trudeau 2015 keimte zuerst Hoffnung auf, da dieser den Indigenen eine Beziehung «auf Augenhöhe» versprach. Dann aber wurde die UN-Deklaration für die Rechte Indigener Völker UNDRIP mit dem Argument abgeschossen, sie gehe viel weniger weit als die nationale Gesetzgebung, und Landrückgaben waren kein Thema mehr – auch der Premier hängt am Tropf der mächtigen Industriebosse. Längst fällige soziale Programme zu finanzieren, die Aufklärung der 4.000 Fälle von verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen zu beschleunigen, das indigene Gesundheitssystem aufzupeppen, etc. sollten längst umgesetzt sein: damit versucht die Regierung den Fokus von der Grundsatzfrage des Landbesitzes zu nehmen.

Die Indigenen lassen sich aber nicht länger hinhalten und wehren sich landesweit mit friedlichen Protesten, die seit Winter 2012 (2) stetig zunehmen. Die Industriefirmen bedienen sich einer neuen Taktik: Sie machen die Bundespolizei RCMP zu ihren Handlangern und lassen diese die Protes- te auflösen, die Blockaden entfernen und die Indigenen kriminalisieren, um sie aus dem Weg zu schaffen. Das bindet Kräfte und Finanzen der Stämme, wenn sie ihre Leute mit Kautionen und hohen Anwaltskosten aus den Fängen der Justiz befreien wollen.

Verhaftung der Unist‘ot‘en Brenda Michell (Chief- Name Geltiy) bei RCMP-Razzia in Wet‘suwet‘en- Unterstützerlager im Norden von B.C., Februar 2020. © Amanda Follett Hosgood

Die Vision des Arthur Manuel

Diese Entwicklung hat Art Manuel vorausgesehen, der 2017 allzu früh verstorbene charismatische Experte und Buchautor für indigene Rechte, unermüdliche Aktivist und ehemalige Chief der Neskonlith Indian Band und des gesamten Shuswap National Council. Er warnte vor der Zersplitterung der Widerstandsbewegung und hielt 2014 eine denkwürdige Rede an einem Treffen von ca. 60 traditionellen Chiefs und gewählten Stammesratsmitgliedern in Nova Scotia, bei dem das Netzwerk der Defenders of the Land gegründet wurde – einem Meilenstein im gemeinsamen Einsatz für Landrechte. Zusammen mit dem radikalen Intellektuellen Russ Diabo und Klanmutter Judy Da Silva, langjährige Aktivistin der Asubpeeschoseewagong (Grassy Narrows) First Nation entwarfen sie die Vision einer nationalen Landrechtspolitik, getragen auch von nicht-indigenen Kräften; nur gemeinsam könne man den Staat zwingen, die von den Indigenen errungenen rechtlichen Instrumente anzuwenden (3), was nichts anderes hieße, als eine regelrechte Dekolonisierung Kanadas einzuleiten.

Wenn diese richtig eingesetzt würden, könnten sie das Land ihren Bedürfnissen gemäß gestalten, indem sie die von Konzernen geführte Rohstoffgewinnung neu verhandeln und sicherstellen würden, dass die First Nations eine angemessene Landbasis zurückerhalten, um eine nachhaltige Wirtschaft für den Eigenbedarf zu entwickeln. Bis jetzt hat die Gesetzgebung der Provinzen die Rückgabe von Land verhindert. «Ein Wandel kommt nie von Richtern oder Politikern», war Manuel der Überzeugung, «eine wirkliche Veränderung wird erst stattfinden, wenn eine Bewegung hinter den Aktionen vor Ort steht und die Durchsetzung unserer Rechte erzwingt». Nur gemeinsam sind wir stark, und mit unseren nicht-indigenen Unterstützungsgruppen». 

Arthur Manuel, Shuswap, mit den Redaktorinnen von MagazINC und Coyote, Wien 2006. © AKIN

Art Manuel hat auch uns damit gemeint.

Premier Trudeau gibt aber die Kontrolle nicht ab; 2020 schlägt er ohne Einbezug der Indigenen ein Gesetz (Bill C-15) vor, wie UNDRIP umgesetzt werden soll: nicht Völkerrecht soll gelten, sondern das koloniale Gesetz der «Doctrine of Discovery».

Kanada an der UNO – auch hier eine Geschichte der Weigerungen

Im Prinzip will man also nichts ändern: Die bestehenden nationalen Gesetze, die vielfach indigene Rechte verletzen, sollen weiterhin über der UNDRIP stehen und Landbesitz sowie Selbstbestimmung ausschließen. Mit dieser Arroganz tritt Kanada auch an der UNO auf.

Seit 1998 verfolgt die Europäische Allianz für die Selbstbestimmung Indigener Völker, bei der Incomindios Mitgliedist, das Verhalten Kanadas an der UNO. Ganz generell fällt auf, daß es kein einziges Menschenrechtsgremium oder -verfahren gibt, von dem Kanada nicht kritisiert worden wäre, insbesondere in Bezug auf die Ungleichbehandlung Indigener Völker und die Verletzung ihrer Rechte. Peter Schwarzbauer, Obmann unserer Alliance-Partnerorganisation AKIN in Wien, dokumentiert jeden Auftritt Kanadas an der UNO, bei dem das Land über Fortschritte in der Menschenrechtspolitik oder die Behebung von Missständen berichten muss.

Die übrigen UN-Mitgliedsländer bewerten/kritisieren konstruktiv dessen Politik und geben Empfehlungen ab. Es ist kaum zu glauben, aber es gibt wenig Fälle, bei denen Kanada einen Bericht der UNO rechtzeitig vorgelegt oder ordnungsgemäß auf Empfehlungen reagiert hat; viele der Einwände und Empfehlungen wurden sogar rundweg abgelehnt. Bis heute. Ein Zeichen von Arroganz der Mächtigen, die gegenüber den Schwächeren keine Verantwortung übernehmen. Solche Konflikte brechen weltweit immer wieder auf – sie müssen auch im Fall von Kanada benannt und verurteilt werden.

Helena Nyberg, Zürich,
Menschenrechtsexpertin Incomindios
www.incomindios.ch

Der Artikel erschien im Magazinc Nr. 55 / Mai 2021.


(1) «Canada» = urspr. Name für ein Irokesendorf.

(2) Idle No More (2012); zuvor Oka-Krise (1990): Wendepunkt in der Beziehung zw. First Nations und Regierung; schuf das Bewusstsein für Landansprüche und systemischen Rassismus; führte zur Einrichtung der Royal Commission on Aboriginal Peoples.

(3) Die Festschreibung der indigenen Rechte in der kanadischen Verfassung, wichtige Urteile des Obersten Gerichtshofs (z.B. Delgamuukw 1997 stellte mündliche Überlieferung der schriftlichen gleich) und die UNDRIP.